17.07.2023

Zur Bemessung der Höhe einer Hinterbliebenenentschädigung

Bei der Bemessung der Höhe einer Hinterbliebenenentschädigung für eine Tochter können die Auswirkungen des Unfalltodes des Vaters auf den autistischen Bruder und die für die Tochter damit einhergehenden Beeinträchtigungen für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung von Bedeutung sein. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Tod des Vaters wegen dessen spezifischer Bedeutung für die Familienmitglieder die Tochter in besonderer Art und Weise belastet und dadurch die Intensität und Dauer ihres eigenen seelischen Leids - und nicht nur das ihres Bruders - (mit)geprägt wird.

BGH v. 23.5.2023 - VI ZR 161/22
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Anspruch. Am 3.9.2020 wurde der Vater der am 5.6.2001 geborenen Klägerin bei einem Verkehrsunfall getötet, den die Beklagte zu 1) mit einem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw verursacht hatte. Die Beklagte zu 1) war mit dem von ihr geführten Pkw beim Durchfahren einer Kurve auf die Fahrspur des ihr auf seinem Motorrad entgegenkommenden Vaters der Klägerin geraten und hatte diesen frontal erfasst. Er verstarb noch am Unfallort. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit.

Zum Zeitpunkt des Unfalls lebte die Klägerin noch bei ihren Eltern. Vorgerichtlich zahlte die Beklagte zu 2) der Klägerin ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 7.500 €. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Zahlung eines weiteren Hinterbliebenengeldes von mindestens 22.500 € nebst Zinsen.

LG und OLG gaben der Klage teilweise statt und verurteilten die Beklagte zur Zahlung von 4.500 € nebst Zinsen. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Der Klägerin steht gegen die Beklagten wegen des Unfalltods ihres Vaters dem Grunde nach ein Anspruch auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes aus § 18 Abs. 1 Satz 1, § 10 Abs. 3 StVG, § 115Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG zu. Die Beklagten haben der Klägerin daher als Gesamtschuldner für das ihr zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung durch das OLG.

Die Revision rügt zu Recht, dass die Erwägungen des OLG zu den Grundlagen der Bemessung von Rechtsfehlern beeinflusst sind. Im Ausgangspunkt ist das OLG noch zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Festsetzung der Hinterbliebenenentschädigung nicht lediglich eine schematische Bemessung vorgenommen werden darf, sondern die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten ist und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen sind. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist dabei, dass das OLG den im Gesetzentwurf genannten Betrag i.H.v. 10.000 € als Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung angesehen hat, von der allerdings unter Berücksichtigung der den jeweiligen Einzelfall prägenden Umstände nach unten oder oben abgewichen werden kann.

Anders als die Revision meint, liegt auch kein Rechtsfehler darin, dass das OLG den Vortrag der Klägerin zu ihrer aufgrund eines im Oktober 2020 begonnenen Studiums bestehenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihrem Vater als für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes irrelevantes Vorbringen angesehen hat. Ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen ein zu berücksichtigender Faktor bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes sind, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Der Senat entscheidet diese Frage dahingehend, dass im Rahmen der umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie sich auf seine seelische Verfassung in prägender Weise ausgewirkt haben.

Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Annahme des OLG, der Vortrag der Klägerin zu den Auswirkungen des Unfalltodes ihres Vaters auf den autistischen Bruder der Klägerin und die für sie damit einhergehenden Beeinträchtigungen sei für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung ohne Bedeutung. Soweit das OLG zur Begründung hierzu anführt, die Klägerin habe nicht vorgetragen, dass dieser Umstand ihr durch den Unfalltod des Vaters erlittenes seelisches Leid verstärkt habe, trifft dies nicht zu. Die Revision verweist zu Recht auf das Vorbringen der Klägerin, wonach ihr Vater der Mittelpunkt der Familie und insbesondere die maßgebliche Respekts- und Bezugsperson für ihren autistischen Bruder gewesen sei. Der Tod des Vaters habe zur Folge gehabt, dass sie nunmehr neben ihrem Studium zwangsläufig in erheblichem Umfang in die Betreuung ihres Bruders mit eingespannt sei, der aufgrund des Todesfalls massive Verhaltensauffälligkeiten zeige, wobei ihr Bruder seiner Mutter und der Klägerin gegenüber aufbrausend und gewaltsam reagiere.

Auch durch diesen Umstand werde die Klägerin tagtäglich mit dem plötzlichen Unfalltod ihres Vaters und der damit verbundenen Veränderung ihrer Lebenssituation konfrontiert. Der dadurch andauernde seelische Schmerz sei nahezu unerträglich. Im Revisionsverfahren ist mangels abweichender Feststellungen von der Richtigkeit dieses Vorbringens auszugehen. Damit hat die Klägerin Umstände dargetan, die bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen sind. Sie hat schlüssig dargelegt, dass der Tod ihres Vaters wegen dessen spezifischer Bedeutung für die Familienmitglieder die Klägerin in besonderer Art und Weise belastet und dadurch die Intensität und Dauer ihres eigenen seelischen Leids - und nicht nur das ihres Bruders - (mit)geprägt wird.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Bemessung der Höhe einer Hinterbliebenenentschädigung
BGH vom 06.12.2022 - VI ZR 73/21
MDR 2023, 295

Kommentierung | BGB
§ 844 Ersatzansprüche Dritter bei Tötung
Wilhelmi in Erman, BGB, 16./17. Aufl. 2020/2023
9/2020

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