21.02.2025

Zur Haftungsverteilung bei unzulässigem Überholmanöver und Verstoß gegen die Pflicht zur doppelten Rückschau

Überholt ein PKW außerorts verbotswidrig eine Kolonne bei unklarer Verkehrslage und kollidiert er dabei mit einem nach links abbiegenden LKW, dessen Fahrer die gebotene zweite Rückschau nicht "unmittelbar" vor dem Abbiegen, sondern mehrere Sekunden zu früh gehalten hat, ist eine Haftungsverteilung von ¾ zu ¼ zulasten des PKW gerechtfertigt. Bei der Anmietung eines Ersatzfahrzeugs für einen unfallbedingt beschädigten LKW ist ein Abzug für ersparte Eigenaufwendungen in Höhe von 10 % der Netto-Mietkosten vorzunehmen.

OLG Schleswig-Holstein v. 11.2.2025 - 7 U 14/24
Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist Leasingnehmerin eines LKW MAN. Die Beklagte zu 2) ist Betreiberin eines Seniorenheimes und Halterin eines bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten PKW Lexus (SUV), der am Unfalltag vom Beklagten zu 3), dem Geschäftsführer der Beklagten zu 2), gefahren wurde. Ein angestellter Fahrer der Klägerin war am 6.1.2023 mit dem LKW MAN auf einer Landstraße unterwegs und beabsichtigte, nach links abzubiegen. Hinter ihm fuhren zwei PKW. Der Beklagte zu 3) näherte sich mit dem Lexus von hinten. Er setzte zum Überholen der beiden PKW und des LKW vor ihm an. Zur gleichen Zeit leitete der Fahrer des LKW das Linksabbiegen ein. Das überholende Beklagtenfahrzeug stieß vorne links gegen den LKW.

Die Klägerin ließ den LKW reparieren. Die Kosten beliefen sich auf 47.722 € netto. Es kamen noch weitere Kosten für das Gutachten usw. hinzu. Die Beklagte regulierte auf Grundlage einer angenommenen Mithaftung zu 1/3 einen Betrag von 19.905 € zzgl. Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.088 €. Die Klägerin behauptete, der LKW-Fahrer habe vor dem Abbiegen erkennbar gebremst, links geblinkt und die Pflicht zur doppelten Rückschau eingehalten. Der Beklagte zu 3) sei erst unmittelbar vor dem Überholen auf die Kolonne aufgeschlossen und sei mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Sie war der Ansicht, es sei von einer alleinigen Haftung der Beklagten auszugehen. Die Beklagten behaupteten, der Beklagte zu 3) sei zunächst hinter der Kolonne hergefahren. Sie bestritten, dass der LKW gebremst oder geblinkt habe. Sie waren der Ansicht, es bestehe allenfalls eine Mithaftung ihrerseits zu 1/3. Außerdem seien von den Mietfahrzeugkosten mind. 20 % an ersparten Eigenaufwendungen abzuziehen.

Das LG hat der Klage nach Beweisaufnahme (Inaugenscheinnahme einer Dashcam-Videoaufzeichnung und Vernehmung von drei Zeugen) überwiegend stattgegeben. Die Klägerin habe aus § 823 BGB, §§ 7, 17, 18 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG gegen die Beklagten einen Anspruch i.H.v. weiteren 38.838 €.  Ein Verschulden des LKW-Fahrers sei nicht nachgewiesen. Außerdem hat das LG bei den Mietfahrzeugkosten einen Abzug wegen ersparter Eigenaufwendungen i.H.v. 15 % vorgenommen. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG einen schuldhaften Verkehrsverstoß des LKW-Fahrers angenommen und den Schadensersatz auf 24.371 € reduziert.

Die Gründe:
Die Beklagten haften für die Folgen des streitgegenständlichen Unfalls im Umfang von 75 %. Zu 25 % hat die Klägerin ihren Schaden selbst zu tragen.

Die Haftungsverteilung richtete sich nach § 17 Abs. 1, 2, § 18 Abs. 2 StVG. Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gem. § 17 Abs. 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Zu Recht war das LG davon ausgegangen, dass dem Beklagten zu 3) ein erheblicher Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO zur Last gefallen ist. Sein Überholmanöver stellte sich als unzulässig dar, weil eine unklare Verkehrslage bestand. Überholt ein PKW auf einer Landstraße außerhalb geschlossener Ortschaften im Bereich vor einer linksseitig befindlichen Einmündung eine langsamer werdende Fahrzeug-Kolonne mit einem LKW an der Spitze, liegt jedenfalls dann eine unklare Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vor, wenn dem PKW-Fahrer die Einmündung bekannt ist und er nicht auf weitere Anzeichen für ein beabsichtigtes Linksabbiegen des LKW (z.B. Fahrtrichtungsanzeiger) achtet.

Zu Recht hat das LG auch angenommen, dass gegen den nach links abbiegenden LKW-Fahrer aufgrund des erheblichen Verstoßes des Beklagten zu 3) gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO kein Anscheinsbeweis einschlägig war. Allerdings ergab sich durchaus ein schuldhafter Verkehrsverstoß des LKW-Fahrers. Danach hatte der LKW-Fahrer gegen die Pflicht zur doppelten Rückschau gem. § 9 Abs. 1 S. 4 StVO verstoßen. Die gem. § 9 Abs. 1 S. 4 StVO gebotene zweite Rückschau hat unmittelbar vor dem Einleiten des Abbiegemanövers zu erfolgen. Eine (letzte) Rückschau mehrere Sekunden vor dem Abbiegen ist nicht als zeitgerecht anzusehen; dies gilt zumindest beim Linksabbiegen auf einer Landstraße außerhalb geschlossener Ortschaften.

Überholt ein PKW außerorts verbotswidrig eine Kolonne bei unklarer Verkehrslage und kollidiert er dabei mit einem nach links abbiegenden LKW, dessen Fahrer die gebotene zweite Rückschau nicht "unmittelbar" vor dem Abbiegen, sondern mehrere Sekunden zu früh gehalten hat, ist eine Haftungsverteilung von ¾ zu ¼ zulasten des PKW gerechtfertigt. Allerdings war hinsichtlich der auf die Mietfahrzeugkosten anzurechnenden ersparten Eigenaufwendungen der Klägerin eine - klarstellende - Korrektur erforderlich. So ist bei der Anmietung eines Ersatzfahrzeugs für einen unfallbedingt beschädigten LKW ein Abzug für ersparte Eigenaufwendungen i.H.v. 10 % statt 15 % der Netto-Mietkosten vorzunehmen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Nachweis eines versicherten Unfalls in der Kfz-Kaskoversicherung
OLG Karlsruhe vom 15.10.2024 - 12 U 12/24

Aufsatz:
Aktuelle Entwicklungen im zivilprozessualen Beweisrecht
Holger Jäckel, MDR 2024, 688

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