Zurechnung von sittenwidrigem Verhalten von VW im Abgasskandal zulasten der Audi AG: Gericht behandelt dem Internet entnommene Tatsachen als offenkundig - Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt
BGH v. 27.1.2022 - III ZR 195/20
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt als Käufer eines gebrauchten Audi Q3 die Audi AG wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung auf Schadensersatz in Anspruch. Das von der beklagten Audi AG hergestellte Fahrzeug ist mit einem im VW-Konzern hergestellten Motor ausgestattet, welcher über den unzulässigen Mechanismus des abgasoptimierten Modus für den Betrieb auf dem Prüfstand enthält. Der Kläger macht geltend, das Fahrzeug sei mangelhaft, weil es die Voraussetzungen für die Eingruppierung in die Schadstoffemissionsklasse "Euro 5" nicht erfülle.
Dies habe die beklagte Audi AG auch gewusst und das Fahrzeug mit straßenverkehrs- und straßenzulassungsrechtlich unzulässiger Softwarekonfiguration auf den Markt gebracht und die Marktgegenseite hierüber vorsätzlich getäuscht. Der Vorstand der Beklagten habe von den entsprechenden Umständen Kenntnis gehabt.
Das LG gab der Klage auf Schadensersatz gegen Rückübereignung des Fahrzeugs überwiegend statt. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten mit der Begründung, eine Kenntnis von der unzulässigen Abschalteinrichtung habe bei ihr nicht vorgelegen, wies das OLG zurück. Dem Kläger stehe gegen die Beklagte gemäß § 826 i.V.m. § 31 BGB analog wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung ein Schadensersatzanspruch zu.
Das OLG hatte mit Blick auf die enge Konzernverbundenheit der Beklagten mit der Konzernmutter, der Volkswagen AG, deren tragende Position auch und besonders im Bereich der Motorenentwicklung und die personellen Verflechtungen innerhalb des Konzerns (ersichtlich bereits aus dem Konzern-Organigramm der Volkswagen AG, § 291 ZPO) keinen Zweifel daran, dass die handelnden Personen bei der Beklagten, auf deren Zurechnung es i.S.d. § 31 BGB ankomme, die notwendige und umfassende Kenntnis von der Entwicklung der auch bei Fahrzeugen der Konzerntochter Audi in sehr hohen Stückzahlen verbauten Umschaltautomatik gehabt hätten. So habe sich die Beklagte in einer im Internet abrufbaren Pressemitteilung vom 16.10.2018 nach Verhängung eines Bußgeldes von 800 Mio. € wie folgt geäußert: "Die AUDI AG bekennt sich damit zu ihrer Verantwortung für die vorgefallenen Aufsichtspflichtverletzungen." Die Revision ließ das OLG nicht zu.
Die Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BGH hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das OLG.
Die Gründe:
Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass das OLG den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG entscheidungserheblich verletzt hat.
Das Gericht darf seiner Entscheidung keine Tatsachen zugrunde legen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern. Das gilt auch dann, wenn es sich um offenkundige Tatsachen i.S.d. § 291 ZPO handelt. Zu diesen gehören auch solche, die das Gericht dem Internet entnommen hat; will es diese zur Grundlage seines Urteils machen, muss es das Ergebnis seiner Ermittlungen den Parteien zugänglich machen und ihnen durch einen Hinweis die Möglichkeit zur Stellungnahme geben.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat das Berufungsgericht die Beklagte mehrfach in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Denn es hat die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB bei den "handelnden Personen bei der Beklagten, auf deren Zurechnung es im Sinne des § 31 BGB ankommt", bejaht, indem es sich unter Anführung des § 291 ZPO auf ein nicht näher bezeichnetes "Konzern-Organigramm der VW AG" und unter Angabe einer Internetadresse auf eine Pressemitteilung der Beklagten vom 16.10.2018 gestützt hat, ohne die Parteien zuvor hierauf hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben. Mit der Verwertung dieser beiden Umstände im Berufungsurteil hat die Beklagte nicht rechnen können.
Der Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör ist entscheidungserheblich. Denn im Falle eines rechtzeitigen Hinweises hätte die Beklagte - nach ihrem zugrunde zu legenden Beschwerdevorbringen - bzgl. des Konzern-Organigramms vorgetragen, dass sich aus personellen Verflechtungen nur dann die erforderliche Kenntnis von verfassungsmäßigen Vertretern der Beklagten ergeben könne, wenn eine für die Volkswagen AG tätige Person, die die entsprechenden Kenntnisse habe, entweder gleichzeitig selbst verfassungsmäßig berufener Vertreter der Beklagten sei oder ihre Kenntnisse an einen solchen weitergegeben habe, was hier aber schon deshalb nicht angenommen werden könne, weil nicht feststehe, dass eine von personellen Verflechtungen betroffene Person überhaupt die entsprechende Kenntnis gehabt habe; selbst in den Verfahren gegen die Volkswagen AG sei nicht die Kenntnis einer bestimmten Person festgestellt worden, sondern nur, dass - eine sekundäre Darlegungslast der Volkswagen AG begründende - Anhaltspunkte für die Kenntnis irgendeines Repräsentanten der Volkswagen AG bestanden hätten.
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Der Kläger nimmt als Käufer eines gebrauchten Audi Q3 die Audi AG wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung auf Schadensersatz in Anspruch. Das von der beklagten Audi AG hergestellte Fahrzeug ist mit einem im VW-Konzern hergestellten Motor ausgestattet, welcher über den unzulässigen Mechanismus des abgasoptimierten Modus für den Betrieb auf dem Prüfstand enthält. Der Kläger macht geltend, das Fahrzeug sei mangelhaft, weil es die Voraussetzungen für die Eingruppierung in die Schadstoffemissionsklasse "Euro 5" nicht erfülle.
Dies habe die beklagte Audi AG auch gewusst und das Fahrzeug mit straßenverkehrs- und straßenzulassungsrechtlich unzulässiger Softwarekonfiguration auf den Markt gebracht und die Marktgegenseite hierüber vorsätzlich getäuscht. Der Vorstand der Beklagten habe von den entsprechenden Umständen Kenntnis gehabt.
Das LG gab der Klage auf Schadensersatz gegen Rückübereignung des Fahrzeugs überwiegend statt. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten mit der Begründung, eine Kenntnis von der unzulässigen Abschalteinrichtung habe bei ihr nicht vorgelegen, wies das OLG zurück. Dem Kläger stehe gegen die Beklagte gemäß § 826 i.V.m. § 31 BGB analog wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung ein Schadensersatzanspruch zu.
Das OLG hatte mit Blick auf die enge Konzernverbundenheit der Beklagten mit der Konzernmutter, der Volkswagen AG, deren tragende Position auch und besonders im Bereich der Motorenentwicklung und die personellen Verflechtungen innerhalb des Konzerns (ersichtlich bereits aus dem Konzern-Organigramm der Volkswagen AG, § 291 ZPO) keinen Zweifel daran, dass die handelnden Personen bei der Beklagten, auf deren Zurechnung es i.S.d. § 31 BGB ankomme, die notwendige und umfassende Kenntnis von der Entwicklung der auch bei Fahrzeugen der Konzerntochter Audi in sehr hohen Stückzahlen verbauten Umschaltautomatik gehabt hätten. So habe sich die Beklagte in einer im Internet abrufbaren Pressemitteilung vom 16.10.2018 nach Verhängung eines Bußgeldes von 800 Mio. € wie folgt geäußert: "Die AUDI AG bekennt sich damit zu ihrer Verantwortung für die vorgefallenen Aufsichtspflichtverletzungen." Die Revision ließ das OLG nicht zu.
Die Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BGH hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das OLG.
Die Gründe:
Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass das OLG den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG entscheidungserheblich verletzt hat.
Das Gericht darf seiner Entscheidung keine Tatsachen zugrunde legen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern. Das gilt auch dann, wenn es sich um offenkundige Tatsachen i.S.d. § 291 ZPO handelt. Zu diesen gehören auch solche, die das Gericht dem Internet entnommen hat; will es diese zur Grundlage seines Urteils machen, muss es das Ergebnis seiner Ermittlungen den Parteien zugänglich machen und ihnen durch einen Hinweis die Möglichkeit zur Stellungnahme geben.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat das Berufungsgericht die Beklagte mehrfach in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Denn es hat die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB bei den "handelnden Personen bei der Beklagten, auf deren Zurechnung es im Sinne des § 31 BGB ankommt", bejaht, indem es sich unter Anführung des § 291 ZPO auf ein nicht näher bezeichnetes "Konzern-Organigramm der VW AG" und unter Angabe einer Internetadresse auf eine Pressemitteilung der Beklagten vom 16.10.2018 gestützt hat, ohne die Parteien zuvor hierauf hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben. Mit der Verwertung dieser beiden Umstände im Berufungsurteil hat die Beklagte nicht rechnen können.
Der Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör ist entscheidungserheblich. Denn im Falle eines rechtzeitigen Hinweises hätte die Beklagte - nach ihrem zugrunde zu legenden Beschwerdevorbringen - bzgl. des Konzern-Organigramms vorgetragen, dass sich aus personellen Verflechtungen nur dann die erforderliche Kenntnis von verfassungsmäßigen Vertretern der Beklagten ergeben könne, wenn eine für die Volkswagen AG tätige Person, die die entsprechenden Kenntnisse habe, entweder gleichzeitig selbst verfassungsmäßig berufener Vertreter der Beklagten sei oder ihre Kenntnisse an einen solchen weitergegeben habe, was hier aber schon deshalb nicht angenommen werden könne, weil nicht feststehe, dass eine von personellen Verflechtungen betroffene Person überhaupt die entsprechende Kenntnis gehabt habe; selbst in den Verfahren gegen die Volkswagen AG sei nicht die Kenntnis einer bestimmten Person festgestellt worden, sondern nur, dass - eine sekundäre Darlegungslast der Volkswagen AG begründende - Anhaltspunkte für die Kenntnis irgendeines Repräsentanten der Volkswagen AG bestanden hätten.
- AUFSATZ: Die Anwendung des § 826 BGB in Konzernfällen, Jürgen Oechsler, ZIP 2021, 929
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RECHTSPRECHUNG: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei unterbliebener Parteianhörung zu "gerichtskundiger" Tatsache im Zivilprozess, BVerfG vom 17.09.2020 - 2 BVR 1605/16, MDR 2020, 1524
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