09.07.2015

Ärzte haften nur für Diagnosefehler und nicht für Diagnoseirrtümer

Ein Arzt, der aus vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss zieht, unterliegt einem - für sich allein noch nicht haftungsbegründenden - Diagnoseirrtum. Infolgedessen kann einem Gynäkologen nicht vorgeworfen werden, dass er einer Patientin zur Empfängnisverhütung eine Spirale einsetzt, nachdem er eine durch gebotene Untersuchungen kaum erkennbare Anomalie - für die es zuvor auch keinen Anhaltspunkt gab - nicht diagnostiziert hat und die Patientin deshalb schwanger wird.

OLG Hamm 29.5.2015, 26 U 2/13
Der Sachverhalt:
Die Klägerin, bei der unerkannt eine Uterus-Anomalie bestand, ließ sich im Mai 2005 durch den beklagten Gynäkologen unter Ultraschallkontrolle eine Spirale zur Empfängnisverhütung einsetzen. Etwa zwei Jahre später wurde sie trotzdem schwanger und gebar eine gesunde Tochter. Vom Beklagten und seiner mitverklagten ärztlichen Praxis verlangten die Klägerin und ihr ebenfalls klagender Lebensgefährte Schadensersatz. Sie waren der Ansicht, der Beklagte habe bei der von ihm durchgeführten Ultraschallkontrolle eine bei der Klägerin vorliegende Anomalie einer doppelten Anlage von Vagina und Uterus erkennen und deswegen vom Einsetzen einer Spirale absehen müssen, da diese in einem solchen Fall keine verhütende Wirkung entfalten könne. Als Schaden machten sie ein Schmerzensgeld von 5.000 €, einen Verdienstausfall von ca. 28.000 € und den Ersatz von Unterhalts- und Betreuungsleistungen für ihre Tochter bis zum Eintritt der Volljährigkeit geltend.

Das LG gab der Klage im Wesentlichen statt. Auf die Berufung der Beklagten hob das OLG die Entscheidung auf und wies die Klage ab. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Die Gründe:
Die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche standen ihnen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu. Ansprüche ergaben sich insbesondere nicht wegen des Vorliegens von Behandlungsfehlern gem. den §§ 611, 280, 249 ff., 823, 253 Abs.2 BGB.

Der beklagte Arzt hatte alle Untersuchungen vorgenommen, die nach dem einzuhaltenden medizinischen Standard im Zusammenhang mit dem Einsetzen der Spirale geboten gewesen waren. Für die bei der Klägerin vorliegende Anomalie hatten zuvor keine Hinweise bestanden. Infolgedessen musste der Beklagte auch nicht danach fahnden.

Auch eine Haftung wegen fehlerhafter Diagnose schied im vorliegenden Fall aus. Ein Arzt, der aus vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss zieht, unterliegt nämlich einem - für sich allein nicht haftungsbegründenden - Diagnoseirrtum. Dieser stellt erst dann einen haftungsbegründenden Diagnosefehler dar, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar war. Hiervon konnte aber im vorliegenden Fall nach den Gutachten der Sachverständigen nicht ausgegangen werden.

Dem Beklagten konnte nicht vorgeworfen werden, dass er die Anomalie der Klägerin nicht erkannt hatte und von einer regelhaften, nur einfachen Anlage ausgegangen war. Die Anomalie der Klägerin ist extrem selten und wegen der in der Regel eng an der Seitenwand anliegenden trennenden Membran bei einer Spiegelung häufig nicht erkennbar. Die Bewertung als regelhafte Genitale war deswegen mangels anderweitiger Umstände nicht zu beanstanden.

Außerdem befand sich die Klägerin seit langen Jahren in frauenärztlicher Behandlung, ohne dass frühere Bildgebungen Anhaltspunkte für die Anomalie ergeben hatten. So konnte auch erst der gerichtliche Sachverständige die Anomalie der Klägerin nach einer intensiven Untersuchung diagnostizieren, wobei ihm die Fallgestaltung bereits Anhaltspunkte für eine Anomalie gegeben hatte.

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OLG Hamm PM v. 8.7.2015