11.01.2016

Arzthaftung: Injektionsbehandlung bei einer Steißbeinfraktur kann grob fehlerhaft sein

Eine Injektionsbehandlung kann grob fehlerhaft sein, wenn bei persistierenden Beschwerden keine bildgebende Diagnostik erfolgt. Für einen Facharzt drängt sich bei einem Sturzereignis, die röntgenologische Befundung als absoluter Standard gerade zu auf.

OLG Hamm 4.12.2015, 26 U 33/14
Der Sachverhalt:
Die heute über 70-jährige Klägerin im Verfahren Az.: 26 U 33/14 war im März 2006 auf ihr Gesäß gefallen und begab sich daraufhin in die ambulante Behandlung des zweitbeklagten Chirurgen in Göttingen. Dieser diagnostizierte einen Knochenhautreizzustand an der Steißbeinspitze und behandelte die Klägerin mit mehreren Infiltrationen. Aufgrund sich verschlimmernder Beschwerden suchte diese im April 2006 das vom erstbeklagten Mediziner geleitete therapeutische Institut in Bochum auf. Nach der Anfertigung eines MRT der Lendenwirbelsäule und des Iliosakralgelenks wurde die Klägerin erneut mit mehreren Injektionen behandelt. Wenige Tage darauf behandelte der Beklagte zu 2) die immer noch unter erheblichen Beschwerden leidende Klägerin bei einem Hausbesuch wiederum mit schmerzstillenden Infiltrationen.

Im weiteren Behandlungsverlauf mit mehrmonatigen stationären Aufenthalten stellte sich heraus, dass bei der Patientin eine schon länger zurückliegende Kreuzbeinfraktur bestand. Zudem hatte sich die Patientin mit dem Staphylococcus aureus Bakterium infiziert. Durch die Infektion erlitt sie multiple Abszesse, ein multiples Organversagen mit zeitweilig lebensgefährlichem Verlauf und musste sich mehrfach Revisionsoperationen unterziehen. Die Klägerin leidet noch heute unter Narbenschmerzen, Mobilisations- und Bewegungseinschränkungen. Sie war der Ansicht, von beiden Beklagten grobfehlerhaft behandelt worden zu sein. Sie und die für sie eintretende Krankenversicherung aus Dortmund, die Klägerin im Verfahren Az.: 26 U 32/14 verlangten von den Beklagten materiellen Schadensersatz, die Klägerin zudem ein Schmerzensgeld.

Nach der Einholung mehrerer medizinischer Sachverständigengutachten hat das LG der Klägerin 100.000 € Schmerzensgeld und rund 12.000 € Schadensersatz zugesprochen. An die Versicherung sollten die Beklagten etwa 530.000 € Schadensersatz für die Kosten medizinisch notwendiger Folgebehandlungen bezahlen. Über weitergehende Verdienstausfallschäden der Klägerin wurde noch nicht entschieden. Die Berufungen der Beklagten blieben vor dem OLG erfolglos. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig und beim BGH unter den Az.: VI ZR 703/15 und BGH VI ZR 704/15 anhängig.

Die Gründe:
Der Klägerin stehen gegen beide Beklagten gem. §§ 611, 823, 280, 249 ff., BGB die geltend gemachten Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadensersatz zu. Der klagenden Versicherung stehen gegen beide Beklagten gem. §§ 611, 823, 280, 249 ff., BGB i.V.m. § 67 VVG a.F./§ 86 VVG n.F. aus übergegangenem Recht die geltend gemachten Ansprüche auf Schadensersatz zu. Überdies war festzustellen, dass beide Beklagten in beiden Fällen zum Ersatz der weiteren materiellen Schäden verpflichtet sind.

Dem Beklagten zu 2) war zumindest ein grober Behandlungsfehler unterlaufen, der seine vollständige Mithaftung für die Gesundheitsschäden der Klägerin begründete. Er hatte seine wenige Tage zuvor begonnene Injektionsbehandlung fortgeführt, ohne eine Steißbeinfraktur durch bildgebende Verfahren abzuklären. Zwar hatte er noch zu Behandlungsbeginn auf eine bildgebende Diagnostik verzichten dürfen, später hätte er jedoch darauf zurückgreifen müssen, da sich die Beschwerden der Patientin nicht dauerhaft verringert hatten. Infolgedessen war es eigentlich zwingend geboten gewesen, der Frage einer Steißbeinfraktur nachzugehen.

Das Unterlassen der weiteren bildgebenden Verfahren war somit grob behandlungsfehlerhaft. Aufgrund der Steißbeinfraktur war die vom Beklagten zu 2) fortgeführte Infiltrationstherapie kontraindiziert. Dieser Schaden und die weiteren Folgeschäden der Klägerin konnten ihm aufgrund der mit der grob fehlerhaften Behandlung verbundenen Beweislastumkehr zugerechnet werden.

Der Beklagte zu 1) haftet, da seine Mitarbeiter bei der Auswertung des MRT eine Fraktur bzw. einen Frakturverdacht fehlerhaft nicht diagnostiziert hatten. Zudem waren die zur Kontrolle der Lage von Injektionsnadeln gefertigten CT-Aufnahmen fehlerhaft bewertet worden. Schließlich wurde auch dabei die sichtbare Fraktur nicht erkannt. Letztlich war eine aufgrund der Fraktur kontraindizierte Injektion fehlerhaft in den Frakturspalt gesetzt worden.

Die Diagnosefehler und auch die Injektion in den Frakturspalt waren grobe Behandlungsfehler zu werten. Aufgrund der damit verbundenen Beweislastumkehr haftet der Beklagte zu 1) ebenfalls in vollem Umfang. Bei beiden Beklagten konnte nicht auszuschließen werden, dass die jeweils in ihrem Verantwortungsbereich durchgeführten Injektionen die Infektion der Patientin bewirkt hatten. Infolgedessen waren beiden die weiteren Folgeschäden der Klägerin zuzurechnen.

Linkhinweis:

  • Der Volltext des Urteils ist erhältlich unter www.nrwe.de - Rechtsprechungsdatenbank des Landes NRW.
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OLG Hamm PM vom 11.1.2016
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