02.02.2017

Auffahrunfälle und Anscheinsbeweis

Bei Auffahrunfällen kann, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, unaufmerksam war oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist. Der Auffahrunfall reicht als Grundlage eines Anscheinsbeweises aber dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen.

BGH 13.12.2016, VI ZR 32/16
Der Sachverhalt:
Die Klägerin war im Juni 2012 auf der A 44 als Fahrerin ihres Motorrads in einen Verkehrsunfall mit einem Kastenwagen mit Anhänger verwickelt. Sie wurde bei dem Unfall erheblich verletzt. Der Fahrer des Kastenwagens konnte nicht ermittelt werden. Wie es zum Unfall gekommen war, blieb zwischen den Parteien im Einzelnen streitig. Die Klägerin behauptete im Wesentlichen, der auf der Überholspur befindliche Kastenwagen sei unmittelbar vor dem Zusammenstoß plötzlich "brutal" abgebremst und dann ruckartig auf die rechte Fahrspur, auf der sie sich befunden habe, hinübergezogen. Sie habe keine Möglichkeit gehabt, ihm auszuweichen, weshalb sie in dessen hintere Flanke gefahren sei.

Die Klägerin nahm den Beklagten als Entschädigungsfonds i.S.v. § 12 PflVG auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Anspruch. Das LG wies die Klage ab. Auch die Berufung und die Revision blieben erfolglos.

Die Gründe:
Die Voraussetzungen für einen Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten aus § 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PflVG i.V.m. §§ 823 ff. BGB oder §§ 7 ff. StVG lagen nicht vor.

Das Berufungsgericht war ohne Rechtsfehler zum Ergebnis gelangt, dass nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises davon auszugehen sei, dass die Klägerin den Unfall verschuldet habe. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO).

Der Auffahrunfall reicht als solcher als Grundlage eines Anscheinsbeweises aber dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die - wie etwa ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs - als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Steht allerdings nicht fest, ob über das - für sich gesehen typische - Kerngeschehen hinaus Umstände vorliegen, die, sollten sie gegeben sein, der Annahme der Typizität des Geschehens entgegenstünden, so steht der Anwendung des Anscheinsbeweises nichts entgegen.

Bestreitet der Vorausfahrende den vom Auffahrenden behaupteten Spurwechsel und kann der Auffahrende den Spurwechsel des Vorausfahrenden nicht beweisen, so bleibt - in Abwesenheit weiterer festgestellter Umstände des Gesamtgeschehens - allein der Auffahrunfall, der typischerweise auf einem Verschulden des Auffahrenden beruht. Es ist nicht Aufgabe des sich auf den Anscheinsbeweis stützenden Vorausfahrenden zu beweisen, dass ein Spurwechsel nicht stattgefunden hat.

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