17.04.2012

Ausschluss der Anrechnung von Maßregelvollzugszeiten auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen verfassungswidrig

Das BVerfG hat entschieden, dass § 67 Abs. 4 StGB insoweit verfassungswidrig ist, als er die Anrechnung einer im Maßregelvollzug verbrachten Zeit auf sog. verfahrensfremde Freiheitsstrafen auch in Härtefällen ausschließt. Das BVerfG hat angeordnet, dass bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber in Härtefällen die Zeit des Vollzuges einer Maßregel der Besserung und Sicherung auch auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen angerechnet werden muss.

BVerfG 27.3.2012, 2 BvR 2258/09
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer, bei dem bereits in jugendlichem Alter eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung diagnostiziert worden war, wurde zwischen 1992 und 2000 zu unterschiedlichen Freiheitsstrafen verurteilt, u.a. 1993 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Das auf diese Verurteilung folgende Vollstreckungsverfahren gestaltete sich langwierig. Die als Vollstreckungsbehörde zuständige Staatsanwaltschaft schob die Strafvollstreckung nach sachverständiger Beratung wiederholt wegen der fortbestehenden psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers auf, so dass bis in das Jahr 2004 hinein keine der ausgesprochenen Freiheitsstrafen vollstreckt werden konnte.

Schließlich wurde der Beschwerdeführer im Juni 2004 vom LG Frankfurt a.M. wegen Diebstahls geringwertiger Sachen und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Vom 5.8.2004 bis 15.1.2009 befand sich der Beschwerdeführer auf Grundlage dieses Urteils im Maßregelvollzug, wo ein so beachtlicher Behandlungserfolg erzielt werden konnte, dass der zuletzt tätige Sachverständige Entlassungsvorbereitungen befürwortete. Dem stand entgegen, dass die noch nicht erledigten Freiheitsstrafen weiterhin zu vollstrecken waren.

Nach der Ablehnung eines vom Beschwerdeführer deswegen gestellten Gnadengesuchs durch die zuständigen Behörden Ende des Jahres 2007 verlegte die Einrichtung des Maßregelvollzugs den Beschwerdeführer wegen Fluchtgefahr in eine gesicherte Station. Mit Wirkung vom 15.1.2009 wurde die Vollstreckung der Maßregel auf Antrag des Beschwerdeführers unterbrochen und mit der Strafvollstreckung aus dem Urteil von 1993 begonnen. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin eine korrigierte Strafzeitberechnung unter Anrechnung der im Maßregelvollzug verbüßten Unterbringungszeit auf die Gesamtvollstreckungszeit. Diesen Antrag lehnten die Staatsanwaltschaft ebenso wie die zuständigen Vollstreckungsgerichte unter Hinweis auf die eindeutige Regelung in § 67 Abs. 4 StGB ab.

Das BVerfG gab der hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde statt, hob die entsprechenden Beschlüsse der Vollstreckungsgerichte auf und verwies die Sache an das zuständige LG zurück. Zugleich ordnete der Senat gem. § 35 BVerfGG an, dass bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber in Härtefällen nach Maßgabe der Entscheidungsgründe die Zeit des Vollzuges einer Maßregel der Besserung und Sicherung auch auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen angerechnet werden muss.

Die Gründe:
§ 67 Abs. 4 StGB ist mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG insoweit unvereinbar, als er es ausnahmslos ausschließt, die Zeit des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen anzurechnen.

Die Berechtigung des Staates, Freiheitsstrafen zu verhängen und zu vollstrecken, beruht auf der schuldhaften Begehung der Straftat. Die Unterbringung aufgrund einer Maßregel der Besserung und Sicherung findet ihre Berechtigung dagegen in der vom Betroffenen ausgehenden Gefahr und dem damit korrespondierenden Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit. Mit dem Maßregelvollzug wird dem Untergebrachten ein Sonderopfer auferlegt. Aus diesem Umstand und aus der Würde des Menschen, dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt, dass gerade der Maßregelvollzug auf das Ziel der Resozialisierung ausgerichtet sein muss.

Der staatliche Strafanspruch und, daraus folgend, das Gebot, rechtskräftig verhängte, tat- und schuldangemessene Strafen auch zu vollstrecken, sind zwar gewichtige Gründe des Gemeinwohls. Die Schwere des mit seiner Verwirklichung verbundenen Eingriffs darf im Ergebnis jedoch nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen. Freiheitsstrafen und freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung sind einander daher so zuzuordnen, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG mehr als notwendig eingegriffen wird. Nur gewichtige Gründe können es rechtfertigen, im Maßregelvollzug erzielte Therapieerfolge durch eine anschließende Strafvollstreckung zu gefährden.

Da Freiheitsstrafe und Maßregel nach rechtfertigendem Grund und Zielrichtung grundsätzlich nebeneinander stehen, gebietet Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG jedoch keine generelle Anrechnung. Durch die von § 67 Abs. 4 StGB vorgegebene Nichtanrechnung der Maßregelvollzugszeiten auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen kann sich eine Kumulation von Freiheitsentziehungen aufgrund von Strafvollstreckung und Maßregelvollzug ergeben. Die damit verbundenen Belastungen lassen sich durch die vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten vollstreckungsrechtlichen Instrumentarien nur begrenzt beeinflussen, denn sie sind weder je für sich noch im Hinblick auf ihr wechselseitiges Verhältnis hinreichend aufeinander abgestimmt und reichen daher nicht aus, um Härtefälle zu vermeiden.

Durch die Anwendung von § 67 Abs. 4 StGB bewirken die angegriffenen Entscheidungen eine Kumulation von Eingriffen in das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers, die angesichts der außergewöhnlichen Umstände des zu entscheidenden Falles über das rechtsstaatlich hinnehmbare Maß hinausgeht. Durch die Nichtanrechnung der Maßregelvollzugszeiten auf die noch nicht vollstreckten Freiheitsstrafen muss der Beschwerdeführer entweder eine jahrelange Anschlussstrafvollstreckung erleiden oder den Maßregelvollzug zum Zwecke des Strafvollzugs langwierig unterbrechen. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass der bereits erzielte Behandlungserfolg voraussichtlich nahezu vollständig wieder zunichte gemacht, die erfolgreiche Resozialisierung des Beschwerdeführers vereitelt und das ihm auferlegte Sonderopfer damit sinnentleert wird.

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BVerfG PM Nr. 23 vom 17.4.2012
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