27.11.2018

Befunderhebungsfehler durch Verwendung eines nur notdürftig reparierten CTG

Der für die Annahme eines Befunderhebungsfehlers erforderliche Pflichtwidrigkeitsvorwurf kann darin bestehen, dass die medizinisch gebotene Befundung mit einem von Beginn an nur notdürftig reparierten Gerät unternommen wird. Das gilt auch dann, wenn das Gerät zunächst noch verwertbare Aufzeichnungen liefert.

BGH 24.7.2018, VI ZR 294/17
Der Sachverhalt:

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens sowie auf Feststellung nach ärztlicher Geburtshilfe in Anspruch. Der Beklagte zu 1) ist Belegarzt in der Klinik der Beklagten zu 3). Die Beklagte zu 2) war Angestellte des Belegarztpools; sie hat die Geburt des Klägers am 20.10.2004 geleitet und befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Weiterbildung zum Facharzt.

Die mit diesem schwangere Mutter des Klägers wurde am 18.10.2004 auf Anordnung des Beklagten zu 1) wegen Überschreitung des errechneten Geburtstermins stationär in die Klinik der Beklagten zu 3) aufgenommen. Am Morgen des 20.10.2004 wurde sie in den Kreißsaal verlegt und an den Wehentropf angeschlossen, es erfolgte zudem eine CTG-Dauerüberwachung. Um 15.52 Uhr kam es zum Blasensprung. Nach 16 Uhr wurde das CTG-Gerät ausgewechselt, nachdem es mit dem ersten Gerät Schwierigkeiten gegeben hatte. Um 16.45 Uhr wurde der Kläger durch die Beklagte zu 2) entbunden, er musste wegen Herz- und Kreislaufstillstands beatmet werden.

Der Kläger leidet u.a. unter einer hypoxischischämischen Enzephalopathie, zentralen Tonus- und Koordinationsstörungen, allgemeiner Entwicklungsstörung, zentralen Bewegungsstörungen sowie einer expressiven Sprachstörung; er wurde in die Pflegestufe 2 eingruppiert. Diese Beschwerden führt der Kläger auf eine von den Beklagten zu verantwortende Sauerstoffunterversorgung im Mutterleib unter der Geburt nach Uterusruptur zurück.

Das LG gab der Klage gegen die Beklagten zu 1) und 2) im Wesentlichen statt und wies die Klage gegen die Beklagte zu 3) ab. Das OLG wies die Klage insgesamt ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:

Auf der Grundlage der dem Kläger günstigen Sachverhaltsvariante, wonach das Ersatzgerät erst um 16.37 Uhr angeschlossen wurde, lässt sich ein Ersatzanspruch des Klägers nicht verneinen. Ein solcher ergäbe sich bei dieser Sachlage und unter Zugrundelegung des vom OLG als wahr unterstellten Vortrags des Klägers vielmehr unter dem Gesichtspunkt des Befunderhebungsfehlers.

Kardiotokographie (CTG) ist die simultane Registrierung und Aufzeichnung der Herztöne des ungeborenen Kindes und der Wehentätigkeit der werdenden Mutter (Herz-Wehenschreiber). Ein Dauer-CTG während der Geburt war bereits zum hier maßgeblichen Zeitpunkt im Jahr 2004 medizinischer Standard. Die Durchführung eines geplanten Geburtsvorgangs mit einem von vornherein nur notdürftig mit Heftpflaster geflickten CTG-Gerät wäre daher von Beginn an als behandlungsfehlerhaft zu beurteilen, was sich freilich nur und erst dann auswirkt, wenn das Gerät infolge des Defekts unrichtige oder unvollständige Befunde liefert.

Die Fehlerhaftigkeit des Vorgehens entfällt auch nicht deshalb, weil die akustischen Signale auch nach dem Ausfall der Schreibfunktion weiterhin zu hören waren und weil der von der Beklagten zu 2) behelfsmäßig vorgenommene manuelle Abgleich mit dem Pulsschlag der Mutter in der konkreten Situation eines Ausfalls der Schreibfunktion des CTG-Geräts unter der Geburt nicht zu beanstanden ist. Insofern ist vielmehr zu unterscheiden zwischen einem nicht immer vermeidbaren kurzfristigen Funktionsausfall und einem - wie hier - von vornherein bestehenden Mangel mit absehbaren Fehlerfolgen. Entsprechend früher setzt der Pflichtwidrigkeitsvorwurf rechtlich im Streitfall an, wobei er entsprechend dem jeweiligen Verantwortungsbereich der Beklagten an das Bereithalten oder die Verwendung eines fehlerhaften Geräts anknüpft.

Der Ausfall jedenfalls der Schreibfunktion des CTG-Gerätes beruhte nach dem vom OLG als wahr unterstellten Vortrag des Klägers auf dem bereits zuvor bestehenden Defekt des Gerätes, der sich nunmehr realisierte, indem der nur notdürftig mit Heftpflaster befestigte Stecker im Zuge des Papierwechsels herausfiel und sich danach wegen eines abgebrochenen Plastikteils nicht mehr richtig befestigen ließ, woraufhin das Gerät unvollständige Befunde lieferte. Bei weiterhin ordnungsgemäßer Aufzeichnung der Herztöne des Klägers wäre die zu diesem Zeitpunkt einsetzende Unterversorgung des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit offenbar geworden und hätte eine Reaktion der Beklagten zu 2) erfordert, nämlich eine Entscheidung über die sofortige Entbindung des Klägers etwa in Gestalt der Vakuumextraktion oder der Sectio. Da das Absehen von einer Reaktion der Beklagten zu 2) unter den für den Kläger lebensbedrohlichen Umständen des Falles grob fehlerhaft gewesen wäre, käme dem Kläger nach der ständigen Rechtsprechung des Senats eine Umkehr der Beweislast für die haftungsbegründende Kausalität von Pflichtverletzung und Schaden zu Gute.

Im weiteren Verfahren wird das OLG zunächst festzustellen haben, wie lange das defekte CTG-Gerät trotz der nach 16 Uhr aufgetretenen Aufzeichnungslücken noch in Betrieb gelassen und wann das Ersatzgerät angeschlossen wurde. Sodann wird sich das OLG eine Überzeugung davon zu bilden haben, ob es auch bei Verwendung eines funktionstüchtigen Gerätes zu einer nicht erkennbaren Fehlableitung der Herztöne gekommen wäre. In Abhängigkeit hiervon wird es ggf. weiter aufzuklären haben, ob der Defekt des CTG-Gerätes bereits am Morgen des 20.10.2004 bestand, ob dies für die Beklagten zu 1) und 3) zurechenbar erkennbar war und wer im Belegarztverhältnis der Beklagten zu 1) und 3) für die Funktionsfähigkeit des CTG-Gerätes verantwortlich war. Für die Beurteilung einer Haftung der Beklagten zu 2) wird ggf. zu klären sein, wann diese die ärztliche Leitung des Geburtsvorgangs übernommen hat und ob und ggf. zu welchem Zeitpunkt sie ihrerseits Kenntnis von dem Defekt des CTG-Gerätes hätte erlangen können.

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