08.03.2024

Beschlussunfähiger Aufsichtsrat wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds

Ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds beschlussunfähig ist, kann nicht entsprechend § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG ergänzt werden. Auch im Fall eines dauerhaften obstruktiven Verhaltens des Aufsichtsratsmitglieds liegt keine Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats vor, die eine entsprechende Anwendung des § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG erfordert. Vielmehr ist jeder Form von Obstruktion mit den üblichen Rechtsbehelfen gegen unbotmäßiges Verhalten von Organmitgliedern zu begegnen.

BGH v. 9.1.2024 - II ZB 20/22
Der Sachverhalt:
Die Antragsteller zu 1) und 2) sind Vorstandsmitglieder, die Antragsteller zu 3) und 4) sind Aufsichtsratsmitglieder der P. AG, deren Aufsichtsrat nach § 9 Abs. 2 ihrer Satzung aus drei Mitgliedern besteht. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 der Satzung ist der Aufsichtsrat nur beschlussfähig, wenn drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht E. (1 HK O 56/21) traten die beiden Aktionäre der P. AG, die H. KG, deren Gesellschafter die Töchter der weiteren Beteiligten sind, und die B. KG unter Verzicht auf alle Form- und Fristvorschriften zu einer außerordentlichen Hauptversammlung zusammen und bestellten die weitere Beteiligte für die Dauer bis zum Ablauf derjenigen Hauptversammlung, die über den Jahresabschluss und die Entlastung für das vierte Jahr nach der Bestellung beschließt, zum Mitglied des Aufsichtsrats.

Die Antragsteller beantragten mit Schriftsatz vom 9.2.2022, Rechtsanwalt Prof. Dr. L. gem. § 104 Abs. 1 AktG für die Dauer bis zur Bestellung eines neuen Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung als Ersatzaufsichtsratsmitglied der P. AG für die weitere Beteiligte zu bestellen, da diese ihre Mitwirkung im Aufsichtsrat verweigere und dessen Beschlussunfähigkeit herbeiführe.

Das AG - Registergericht - wies den Antrag zurück. Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte vor dem OLG - Beschwerdegericht - ebenso wenig Erfolg wie die vorliegende Rechtsbeschwerde vor dem BGH.

Die Gründe:
Die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Aufsichtsrats gem. § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG liegen nicht vor.

Dem Aufsichtsrat der P. AG gehört mit den Antragstellern zu 3) und 4) und der weiteren Beteiligten die zur Beschlussfähigkeit nötige Zahl von Mitgliedern an. Nach § 104 Abs. 1 AktG sind der Vorstand, ein Mitglied des Aufsichtsrats oder ein Aktionär berechtigt, bei Gericht einen Antrag auf Ergänzung des Aufsichtsrats zu stellen, wenn dem Aufsichtsrat die zur Beschlussfassung erforderliche Anzahl von Mitgliedern nicht angehört. Dem Fehlen eines Mitglieds wird die dauerhafte Amtsverhinderung des Aufsichtsratsmitglieds gleichgesetzt, etwa wegen rechtlicher, wie die Vertretung eines Vorstandsmitglieds nach § 105 Abs. 2 S. 1 AktG, oder tatsächlicher Verhinderung, etwa infolge Krankheit, Unerreichbarkeit oder eines dauerhaften Interessenkonflikts.

Die weitere Beteiligte ist weder rechtlich noch tatsächlich dauerhaft an der Ausübung ihres Aufsichtsratsmandats gehindert. Das OLG hat offengelassen, ob die weitere Beteiligte die Mitwirkung im Aufsichtsrat seit September 2021 boykottiert und damit dessen Beschlussunfähigkeit herbeiführt, um so die Geltendmachung von Zahlungsansprüchen der P. AG gegen die Erbengemeinschaft nach H., der neben der weiteren Beteiligten auch ihre drei Töchter angehören, zu verhindern. Dies ist deshalb für das Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellen. Dabei handelt es sich aber nicht um einen dauerhaften, sondern lediglich um einen punktuellen Interessenkonflikt der weiteren Beteiligten bei ihrer Aufsichtsratstätigkeit für die P. AG, der auch nach den von der Rechtsbeschwerde dazu angeführten Literaturstimmen nicht vom Anwendungsbereich des § 104 Abs. 1 AktG erfasst wird.

Ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds beschlussunfähig ist, kann nicht entsprechend § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG ergänzt werden. Teilweise wird zwar, insbesondere bei einem dreiköpfigen Aufsichtsrat, eine entsprechende Anwendung der Norm befürwortet. Dagegen liegt nach einer anderen Ansicht auch im Fall eines dauerhaften obstruktiven Verhaltens des Aufsichtsratsmitglieds keine Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats vor, die eine entsprechende Anwendung des § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG erfordere. Vielmehr sei jeder Form von Obstruktion mit den üblichen Rechtsbehelfen gegen unbotmäßiges Verhalten von Organmitgliedern zu begegnen. Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Ansicht an. Eine Analogie setzt voraus, dass das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke aufweist und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen. Das ist nicht der Fall.

Ein dauerhaftes, zur Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats führendes Boykottverhalten des Aufsichtsratsmitglieds kann mit einer dauerhaften rechtlichen oder tatsächlichen Verhinderung bereits deshalb nicht gleichgesetzt werden, da es jederzeit beendet werden kann. Zudem ist eine gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats nicht geeignet, die durch das obstruierende Aufsichtsratsmitglied herbeigeführte Situation rechtssicher aufzulösen. Gem.§ 104 Abs. 6 AktG erlischt das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds, sobald der Mangel behoben ist. Das obstruktive Aufsichtsratsmitglied hat es also in der Hand, durch sein Erscheinen zur Aufsichtsratssitzung nach der gerichtlichen Ersatzbestellung die Beschlussfähigkeit des Gremiums wieder herbeizuführen, was zum Amtsverlust des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds führt. Es bedürfte dann einer erneuten gerichtlichen Ersatzbestellung, wenn das Aufsichtsratsmitglied zu seinem obstruktiven Verhalten zurückkehrt. Das Aktiengesetz eröffnet auch in der Konstellation eines dreiköpfigen Aufsichtsrats die Möglichkeit, ein ohne Bindung an Wahlvorschläge gewähltes, die Teilnahme an der Beschlussfassung boykottierendes Aufsichtsratsmitglied abzurufen, ein neues Aufsichtsratsmitglied durch die Hauptversammlung oder das Gericht zu bestellen und damit die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats sicherzustellen. Dem Schutzanliegen des § 104 AktG kann daher auch ohne entsprechende Anwendung der Norm Rechnung getragen werden.

Nach § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG können Aufsichtsratsmitglieder, die von der Hauptversammlung ohne Bindung an Wahlvorschläge gewählt worden sind, vor dem Ablauf ihrer Amtszeit abberufen werden. Der Möglichkeit der Abberufung durch die Hauptversammlung kann die Rechtsbeschwerde nicht mit Erfolg das Konfliktlösungspotential mit der Argumentation absprechen, die Abberufung des obstruierenden Aufsichtsratsmitglieds und die Neuwahl eines Nachfolgers durch einen Hauptversammlungsbeschluss sei schwerfällig und mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagerisiken behaftet. Im Übrigen verfängt der Einwand gerade im vorliegenden Fall nicht, wenn man berücksichtigt, dass die weitere Beteiligte anlässlich eines Gerichtstermins ad hoc im Wege einer außerordentlichen Hauptversammlung in den Aufsichtsrat der zweigliedrigen Aktiengesellschaft gewählt worden ist. Das zeigt jedenfalls, dass das Argument gerade in Aktiengesellschaften mit geschlossenem Aktionärskreis im Hinblick auf § 121 Abs. 6 AktG nicht überzeugt. Daneben kann das Gericht ein boykottierendes Aufsichtsratsmitglied nach § 103 Abs. 3 AktG abberufen.

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