04.01.2018

Billigkeitserlass von Nachzahlungszinsen

Die Beispiele 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 des AO-Anwendungserlasses zu § 233a halten, soweit dort für den Beginn des "fiktiven Zinslaufs" nicht auf den Tag der freiwilligen Zahlung, sondern erst auf den Folgetag abgestellt wird, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht ein.

Kurzbesprechnung
BFH v. 31.5. 2017 - I R 92/15

AO § 108 Abs. 1, § 227, § 233a Abs. 3 Satz 3, § 238 Abs. 1
FGO § 102
BGB § 187, § 188

Streitig war, in welchem Umfang festgesetzte Nachzahlungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind.

Das FA hatte den begehrten Erlass abgelehnt und sich mit seiner ablehnenden Entscheidung an die Beispiele 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a gehalten, die als ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift für das FA bindend war. Der BFH entschied jedoch, dass die darin enthaltenen Regelungen zur Berechnung der "fiktiven Erstattungszinsen" nicht die gesetzlichen Grenzen des Ermessens wahren und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch machen. Denn es ist nicht ermessensgerecht, für den Beginn des "fiktiven Zinslaufs" nicht auf den Tag der freiwilligen Zahlung, sondern erst auf den Folgetag abzustellen.

Die ermessensleitenden Richtlinien basieren auf der Vorstellung, dass durch die freiwilligen Leistungen vor Steuerfestsetzung eine Situation entsteht, die derjenigen für Erstattungszinsen vergleichbar ist. Ein Erlass der Nachzahlungszinsen in Höhe vergleichbar berechneter Zinsen ist daher eine mögliche Ermessensausübung.. Die freiwillige Leistung der - rechnerisch ermittelten, aber noch nicht festgesetzten - Steuer hat zur Folge, dass die Steuer im Zeitraum zwischen angenommener Zahlung und Festsetzung überzahlt ist. Es besteht ein Guthaben zugunsten des Steuerpflichtigen. Sachgerecht ist dann, wenn Zinsen für den überzahlten Betrag ("fiktive Erstattungszinsen") berechnet und im Erlasswege dadurch berücksichtigt werden, dass in Höhe der "fiktiven Erstattungszinsen" die Nachzahlungszinsen reduziert werden.

Es ist allerdings nicht sachgerecht und keine rechtmäßige Ermessensausübung, bei der Berechnung des Erlassbetrages den Zinslauf der "fiktiven Erstattungszinsen" ("fiktiver Zinslauf") abweichend von den für Erstattungszinsen geltenden Regelungen zu bestimmen. Davon gehen die Richtlinien in den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a aber aus. Denn dort wird als Beginn des "fiktiven Zinslaufs" nicht auf den Tag der freiwilligen Leistung, sondern auf den Folgetag abgestellt. Begründet wird dies mit der über § 108 Abs. 1 AO anzuwendenden Fristvorschrift des § 187 Abs. 1 BGB. Danach ist, wenn für den Anfang einer Frist ein Ereignis maßgebend ist, der Tag, in den das Ereignis fällt, nicht mitzurechnen.

Hinsichtlich des Beginns des Zinslaufs bestimmt jedoch § 238 Abs. 1 Satz 2 AO, dass Zinsen von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, zu zahlen sind. Die Formulierung "von dem Tag an" ist zweifelsfrei in dem Sinne zu verstehen, dass der erste Tag des Zinslaufs von Anfang an, also ab 00:00 Uhr, bei der Berechnung des Zinslaufs und der Ermittlung der vollen Monate mitzuzählen ist. Die Regelung in § 238 Abs. 1 Satz 2 AO gilt - mangels entgegenstehender Bestimmungen - auch für die Bestimmung des Zinslaufs bei Erstattungszinsen. Die Verzinsung beginnt hier frühestens mit dem Tag der Zahlung (§ 233a Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 AO). Der Zahlungstag ist demnach von Anfang an ("von dem Tag an"), d.h. ab Tagesbeginn um 00:00 Uhr, bei der Berechnung der Dauer des Zinslaufs und der Ermittlung der vollen Monate einzubeziehen.

Die gesetzlich angeordnete Berücksichtigung des gesamten ersten Tages für die Ermittlung der Dauer des Zinslaufs und der vollen Monate hat sodann zur Folge, dass sich die Fristberechnung nicht nach §§ 187 Abs. 1 ("Ereignis"), 188 Abs. 2 Variante 1 BGB i.V.m. § 108 Abs. 1 AO, sondern nach §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 Variante 2 BGB i.V.m. § 108 Abs. 1 AO richtet. Danach wird, wenn der Beginn eines Tages der für den Anfang einer Frist maßgebende Zeitpunkt ist, dieser Tag bei der Berechnung der Frist mitgerechnet. Das Fristende ist dann mit dem Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats erreicht, welcher dem Tage vorhergeht, der durch seine Zahl dem Anfangstage der Frist entspricht. Die Ermittlung der Anzahl der "vollen Monate" gemäß §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 Variante 2 BGB entspricht der herrschenden Meinung in der Literatur, der sich der BFH anschließt.

Beraterhinweis: Nach Auffassung des BFH ist kein Grund ersichtlich, warum bei der Berechnung "fiktiver Erstattungszinsen" der Zinslauf abweichend von der durch die AO vorgegebenen Regelungssystematik bestimmt werden sollte. Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a ist an diese Systematik angelehnt. Es ist daher nicht ermessensgerecht, davon ohne triftigen Grund abzuweichen und zu unterstellen, dass im Falle der freiwilligen Leistung das Kapital dem Steuerpflichtigen am Zahltag noch zur alleinigen Nutzung zur Verfügung gestanden hat, im Falle einer Leistung nach vorheriger Festsetzung (z.B. von Vorauszahlungen) aber nicht.

BFH, Urteil vom 31.5. 2017, I R 92/15, veröffentlicht am 3.1.2018.

Verlag Dr. Otto Schmidt