07.10.2011

Fortdauer der Sicherungsverwahrung bei Altfällen: "Psychische Störung" liegt unterhalb der Schwelle der Vorschriften zur Schuldfähigkeit

Der Begriff der psychischen Störung i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG setzt nicht voraus, dass der Grad einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB erreicht wird. Vielmehr sind auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle unter diesen Begriff zu fassen.

BVerfG 15.9.2011, 2 BvR 1516/11
Der Sachverhalt:
Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer wurde im Jahr 1994 wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zugleich wurde gegen ihn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die zum Zeitpunkt seiner Verurteilung geltende zehnjährige Höchstfrist für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wurde zum 31.1.1998 aufgehoben. Der Wegfall der Befristung betraf auch alle zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neureglung bereits angeordneten und noch nicht erledigten Fälle der Sicherungsverwahrung (sog. "Altfälle").

Im April 2009 befand sich der Beschwerdeführer seit zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung. Auf der Grundlage zweier Sachverständigengutachten, die eine bei dem Beschwerdeführer diagnostizierte dissoziale Persönlichkeitsstörung und ein sehr hohes Rückfallrisiko bescheinigten, ordnete das LG im Juni 2010 die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an. Im Juni 2011 hob das OLG auf der Grundlage weiterer Sachverständigengutachten den angefochtenen Beschluss des LG auf und ordnete die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Sicherungsverwahrung zum 19.12.2011 an.

Ausweislich der aktuellen Gutachten leide der Beschwerdeführer nicht an einer psychischen Störung i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG. Diese liege erst vor, wenn die psychische Störung das Gewicht einer schweren seelischen Abartigkeit i.S.d. gesetzlichen Regel zur Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) erreiche. Das sei hier nicht der Fall. Die Freilassung des Beschwerdeführers werde auf den späteren Zeitpunkt bestimmt, um die Durchführung der erforderlichen Entlassungsvorbereitungen zu ermöglichen.

Das BVerfG hob die Entscheidungen von LG und OLG auf, weil sie den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletzen und dem ihm zukommenden Vertrauensschutz nicht hinreichend Rechnung tragen, und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurück.

Die Gründe:
Der Beschluss des LG über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers genügt nicht den besonderen Anforderungen, die das BVerfG für die Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung an eine Fortdaueranordnung in den sog. "Altfällen" stellt. Auch die Entscheidung des OLG verletzt den Beschwerdeführer in seinen o.g. verfassungsmäßigen Rechten. Nachdem das Gericht die besonderen Voraussetzungen für eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage der Weitergeltungsanordnung des BVerfG verneint hat, hätte es die unverzügliche Entlassung des Beschwerdeführers anordnen müssen, statt diese um mehr als sechs Monate hinauszuschieben.

Nach Maßgabe der vom BVerfG in seinem Urteil vom 4.5.2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) getroffenen Übergangsregelungen haben die Vollstreckungsgerichte in den sog. "Altfällen" aufgrund der besonderen Schwere des Grundrechtseingriffs das Vorliegen der Voraussetzungen der Fortdauer der Sicherungsverwahrung unverzüglich zu prüfen und - falls diese nicht gegeben sind - die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens zum 31.12.2011 anzuordnen. Diese allein dem Prüfungsaufwand geschuldete Fristsetzung bedeutet jedoch nicht, dass der Entlassungstermin innerhalb des verbleibenden Zeitraums bis zum Ende des Jahres 2011 nach Ermessen zu bestimmen wäre.

Halten die zuständigen Gerichte die Unterbringungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung nicht für gegeben, haben sie die unverzügliche Entlassung der Betroffenen anzuordnen. In den sog. "Altfällen", in denen die Unterbringung auch gegen das Vertrauensschutzgebot verstößt, kommt eine zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung zum Zweck der Durchführung von Entlassungsvorbereitungen daher nicht in Betracht. Dem Resozialisierungsanspruch der Betroffenen ist in diesen Fällen, soweit im Einzelfall möglich und notwendig, durch eine dem Fehlen ausreichender Entlassungsvorbereitungen angepasste engmaschige Begleitung und geeignete Weisungen im Rahmen der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht Rechnung zu tragen.

Im Hinblick auf die vom LG erneut vorzunehmende Prüfung war zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "psychischen Störung" i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG auf Folgendes hinzuweisen: Der Gesetzgeber hat mit der Unterbringung nach dem ThUG ersichtlich eine neue eigenständige Kategorie der Unterbringung psychisch gestörter, für die Allgemeinheit gefährlicher Personen geschaffen, die unterhalb der Schwelle der Vorschriften zur Schuldfähigkeit anzusiedeln ist. Dementsprechend setzt der Begriff der psychischen Störung i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG gerade nicht voraus, dass der Grad einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB erreicht wird. Vielmehr sind auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle unter diesen Begriff zu fassen; gleiches gilt auch für die dissoziale Persönlichkeitsstörung. Entscheidend ist hier der Grad der objektiven Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht.

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BVerfG PM Nr. 61 vom 6.10.2011
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