29.08.2014

Gericht erlangt Verfügungsgewalt über ein Schriftstück erst durch Ablage an der dafür vorgesehenen Stelle beim Gericht

Ein Schriftstück, mit dem eine Frist eingehalten werden soll, gelangt nicht schon zu dem Zeitpunkt fristwahrend in die Verfügungsgewalt des Gerichts, zu dem der zuständige Mitarbeiter des Gerichts die ihm von einem Rechtsanwalt oder einem Mitarbeiter einer Kanzlei übergebene Postmappe zum Zwecke der Anbringung des Eingangsstempels auf den Schriftstücken und Einbehaltung der für das Gericht bestimmten Exemplare annimmt. Ein Wechsel der Verfügungsgewalt findet erst statt, wenn der Mitarbeiter die für das Gericht bestimmten Exemplare der Schriftstücke nach Abstempelung an der dafür vorgesehenen Stelle beim Gericht ablegt.

BGH 22.5.2014, I ZR 70/14
Der Sachverhalt:
Das OLG hat mit Urteil vom 27.1.2014 auf die Berufung der Beklagten das der Klage stattgebende Urteil erster Instanz abgeändert, die Klage abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Die Klägerin, der dieses Urteil am 3.2.2014 zugestellt worden ist, legte mit Schriftsatz vom 4.3.2014, eingegangen beim BGH am selben Tag, Nichtzulassungsbeschwerde ein und beantragte vorsorglich Wiedereinsetzung in die etwa versäumte Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde.

Hierzu trug die Klägerin vor:

Ihr beim BGH zugelassener Prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt X habe am 3.3.2014, an dem die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde abgelaufen sei, sein Personal angewiesen, die von ihm zuvor gefertigte, durchgesehene und unterzeichnete Rechtsmittelschrift nebst einer beglaubigten Abschrift und zwei weiteren Abschriften sowie dem mit der Revision anzufechtenden Urteil noch am Abend dieses Tages zusammen mit einigen weiteren Fristsachen zur Poststelle des BGH zu bringen. Die bislang beanstandungsfrei und zuverlässig arbeitende und sorgfältig stichprobenartig überwachte Rechtsanwaltsfachangestellte D habe diese Aufgabe übernommen. Sie sei gegen 18.30 Uhr zur Poststelle des BGH gelangt und habe die Postmappe mit den verschiedenen Fristsachen und darunter auch den Schriftstücken in der vorliegenden Sache an die dort tätige Mitarbeiterin des Gerichts übergeben.

Diese habe die eingehenden Schriftstücke sowie das jeweils zuoberst liegende Exemplar für die Handakten von X mit dem Datumsstempel des Gerichts versehen, die für den BGH vorgesehenen Schriftstücke entnommen und die Postmappe mit den gestempelten Exemplaren für die Handakten sodann an D zurückgereicht. Die Mitarbeiterin des Gerichts habe dabei offenbar das Fach in der Postmappe, in dem sich die Schriftstücke für das vorliegende Verfahren befunden hätten, überblättert und die dort einliegenden Schriftstücke daher wieder an D zurückgereicht. Diese habe die Postmappe entgegen der allgemeinen Kanzleianweisung, die zurückgereichte Mappe sofort daraufhin zu kontrollieren, ob sie alle gestempelten Aktenexemplare enthalte, nicht nochmals durchgesehen, sondern in ihrem Fahrzeug mit in den Feierabend genommen. Erst am Morgen des 4.3.2014 sei bei der Leerung der Postmappe in der Kanzlei festgestellt worden, dass sich dort neben den gestempelten Aktenexemplaren in den anderen Fristsachen die noch ungestempelten Schriftstücke in der vorliegenden Sache befunden hätten.

Der BGH gewährte der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde.

Die Gründe:
Es ist davon auszugehen, dass die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde, die in der vorliegenden Sache am 3.3.2014 geendet hat, versäumt worden ist. Der Klägerin war insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Für die Frage, ob ein Schriftstück, mit dem eine bei einem Gericht zu wahrende Frist eingehalten werden sollte, dort rechtzeitig eingegangen ist, ist entscheidend, ob es innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt dieses Gerichts gelangt ist und damit dem Zugriff des Absenders nicht mehr zugänglich war. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht schon dadurch erfüllt, dass die Mitarbeiterin des Gerichts die ihr von D übergebene Postmappe zum Zwecke der Anbringung des Eingangsstempels auf den Schriftstücken und Einbehaltung der für das Gericht bestimmten Exemplare angenommen hat. Dem steht schon entgegen, dass die für die Handakten des Rechtsanwalts bestimmten Exemplare der Schriftstücke nicht in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangen sollten.

Ein Wechsel der Verfügungsgewalt im Sinne ihres vollständigen Übergangs auf das Gericht hat daher nur insoweit und auch erst in dem Zeitpunkt stattgefunden, als die Mitarbeiterin des Gerichts die für das Gericht bestimmten Exemplare der Schriftstücke nach deren Abstempelung nicht wieder in die Postmappe eingelegt, sondern an der für beim Gericht eingegangene Schriftstücke vorgesehenen Stelle abgelegt hat. Bei den für das vorliegende Verfahren vorgesehenen Schriftstücken, die in der Postmappe des Rechtsanwalts verblieben sind, hat daher am 3.3.2014 kein Übergang der Verfügungsgewalt auf das Gericht stattgefunden.

Der Klägerin war jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 S. 1 ZPO). Die Fristversäumung beruhte weder auf einem eigenen schuldhaften Verhalten der Klägerin noch auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten X. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Fristversäumung ihre Ursache darin hat, dass D es nach der Einlieferung der von ihr am Abend des 3.3.2014 beim BGH abzugebenden Schriftstücke weisungswidrig unterlassen hat zu prüfen, ob diese Schriftstücke auch tatsächlich sämtlich in die Verfügungsgewalt des BGH gelangt waren. Ein eigenes (Organisations)Verschulden des X liegt nicht vor; dieser hatte eine zweckdienliche allgemeine Weisung erteilt, bei deren Befolgung die am 3.3.2014 ablaufende Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht versäumt worden wäre.

Linkhinweis:

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