Insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot bei nachträglichem Verzicht auf Steuerfreiheit nach § 9 UStG
KurzbesprechungInsO § 96 Abs. 1 Nr. 1
UStG § 9, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
EGRL 112/2006 Art. 63, Art. 167
Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist.
Ob ein Insolvenzgläubiger bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist, bestimmt sich danach, ob der Tatbestand, der den betreffenden Anspruch begründet, nach den steuerrechtlichen Vorschriften bereits vor oder erst nach Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist. Entscheidend ist, ob sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung eines Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits erfüllt waren.
Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht materiell-rechtlich, wenn die betreffende Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Auf den Besitz der Rechnung kommt es für die insolvenzrechtliche Begründung des Erstattungsanspruchs nicht an. Denn das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht materiell-rechtlich bereits dann, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Der Rechnungsbesitz ist demzufolge eine nur formelle, nicht aber eine materielle Bedingung für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug.
Der Umstand, dass der Besitz der Rechnung eine materielle Anspruchsvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug darstellt, ist daher für die Frage nach dem Zeitpunkt der materiell-rechtlichen Entstehung dieses Anspruchs ohne Bedeutung.
Auf den Zeitpunkt der dem Vorsteuerabzug zugrunde liegenden Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen ist auch dann abzustellen, wenn der Anspruch auf Vorsteuerabzug auf einem Verzicht auf die Steuerfreiheit nach § 9 UStG beruht; denn der Verzicht wirkt hinsichtlich der Entstehung des Anspruchs auf den Veranlagungszeitraum zurück, in dem der Umsatz ausgeführt wurde.
In diesem Punkt unterscheidet sich der Verzicht auf Steuerfreiheit nach § 9 UStG von einer Berichtigung des Steuerbetrags nach § 14c Abs. 1 Satz 2 oder Abs. 2 Satz 3 UStG; denn die Berichtigung wirkt nicht auf den Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung zurück.
Im Streitfall hatte die Steuerpflichtige erst im August 2011 eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis über die von der KG bis einschließlich Februar 2009 erbrachten Pachtleistungen erhalten. Mit dieser Rechnung hatte die KG die Pachtleistungen als steuerpflichtige Umsätze behandelt und demzufolge auf die Steuerfreiheit der Pachtleistungen verzichtet. Der Verzicht auf die Steuerfreiheit bewirkte rückwirkend, dass der Umsatz steuerpflichtig ist. Auch wenn die Steuerpflichtige ihren Anspruch erst mit dem Erhalt der Rechnung geltend machen konnte, änderte dies nichts an dem Umstand, dass das Recht auf den Vorsteuerabzug materiell-rechtlich bereits zum Zeitpunkt der jeweiligen Pachtleistung entstanden ist, im Streitfall also i.S. des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, so dass die vom FA vorgenommene Aufrechnung des Vorsteuervergütungsanspruchs mit andere Steuerschulden rechtmäßig war.
BFH, Urteil vom 12.6.2018, VII R 19/16, veröffentlicht am 29.8.2018.