Parkplatzunfälle: Zu den Grundsätzen des Anscheinsbeweises bei Kollisionen während des Rückwärtsfahrens
BGH 15.12.2016, VI ZR 66/16Die Klägerin macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall auf dem Parkplatz eines Baumarktes geltend. Der Beklagte zu 1) (der Beklagte) fuhr am Unfalltag mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw auf dem Fahrweg zwischen zwei im rechten Winkel dazu angeordneten Parkbuchten. Dabei fuhr er vorwärts in eine - aus seiner Fahrtrichtung gesehen rechts vom Fahrweg gelegene - Parkbucht ein, um sogleich wieder in entgegengesetzter Richtung rückwärts aus der Parkbucht auszufahren. Die Klägerin befand sich zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Pkw in einer auf der gegenüberliegenden Seite des Fahrwegs gelegenen Parkbucht. Sie fuhr, nachdem sie gesehen hatte, dass der Beklagte in die Parkbucht eingefahren war, mit ihrem Fahrzeug rückwärts aus ihrer Parkbucht und brachte ihr Fahrzeug auf dem Fahrweg zum Stehen.
Noch ehe sie den Vorwärtsgang eingelegt und ihr Fahrzeug in Richtung Ausfahrt in Bewegung gesetzt hatte, kam es zur Kollision zwischen dem Pkw der Klägerin und dem Heck des Pkw des Beklagten, der ebenfalls rückwärts aus der gegenüberliegenden Parkbucht ausgefahren war. Durch die Kollision wurde das Fahrzeug der Klägerin an der Fahrerseite beschädigt. Die Klägerin behauptet, dass der Pkw des Beklagten vollständig in die gegenüberliegende Parkbucht eingefahren sei. Die Bremslichter des Fahrzeugs des Beklagten seien erloschen gewesen. Erst als sie daraufhin aus ihrer Parkbucht ausgefahren und auf dem Fahrweg zum Stehen gekommen sei, habe der Beklagte sein Fahrzeug plötzlich zurückgesetzt. Zum Zeitpunkt der Kollision habe sie bereits etwa drei Sekunden auf dem Fahrweg gestanden.
Der Beklagte behauptet demgegenüber, nicht in die unmittelbar gegenüber dem Klägerfahrzeug befindliche Parkbucht, sondern in eine etwas versetzt gelegene Parkbucht eingefahren zu sein. Er sei auch nicht vollständig in diese Parkbucht eingefahren, sondern habe, als sich die Front seines Fahrzeugs etwa quer zum Verlauf des Fahrwegs befunden habe, den Rückwärtsgang eingelegt, um in entgegengesetzter Fahrtrichtung wieder auf den Fahrweg zu fahren. Er sei zur selben Zeit wie die Klägerin aus der Parkbucht ausgefahren. Das Fahrzeug der Klägerin sei allenfalls den Bruchteil einer Sekunde vor der Kollision zum Stehen gekommen. Die Beklagte zu 2) regulierte den Schaden der Klägerin auf Grundlage einer Haftungsquote von 50 Prozent.
AG und LG wiesen die auf Ersatz des weitergehenden Schadens gerichtete Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurück.
Die Gründe:
Nach den getroffenen Feststellungen streitet kein Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Klägerin. Im Rahmen der gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile hat das LG rechtsfehlerhaft angenommen, dass der Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Klägerin spricht, obwohl es davon ausgegangen ist, dass das Fahrzeug der Klägerin im Zeitpunkt der Kollision bereits stand.
Die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar. Mittelbare Bedeutung erlangt sie aber über § 1 StVO. Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärtsfährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann. Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Mitverschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat.
Dagegen liegt die für die Anwendung eines Anscheinsbeweises gegen einen Rückwärtsfahrenden erforderliche Typizität des Geschehensablaufs regelmäßig nicht vor, wenn beim rückwärtigen Ausparken von zwei Fahrzeugen aus Parkbuchten eines Parkplatzes zwar feststeht, dass vor der Kollision ein Fahrzeugführer rückwärts gefahren ist, aber zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass sein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der andere - rückwärtsfahrende - Unfallbeteiligte mit seinem Fahrzeug in das Fahrzeug hineingefahren ist. Nach diesen Grundsätzen hätte das LG aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen nicht davon ausgehen dürfen, dass ein Anscheinsbeweis auch für ein Mitverschulden der Klägerin an dem Verkehrsunfall spricht. Denn nach den Feststellungen des LG hatte die Klägerin nach dem Zurücksetzen ihr Fahrzeug auf dem Fahrweg "zum Stehen" gebracht.
Damit hat das LG seiner Beurteilung die Feststellung zugrunde gelegt, dass das Fahrzeug der Klägerin unmittelbar vor der Kollision zum Stillstand gekommen war. Lediglich die Zeitspanne zwischen Erreichung des Stillstands des Pkw der Klägerin und der Kollision mit dem rückwärtsfahrenden Fahrzeug des Beklagten hat das LG nicht festzustellen vermocht. Auf dieser tatsächlichen Grundlage steht eine Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten der Klägerin nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Die erforderliche Typizität liegt regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststeht, dass ein Fahrzeugführer - wie hier - vor der Kollision rückwärts gefahren ist, aber zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass sein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der andere Unfallbeteiligte (hier: der Beklagte) mit seinem Fahrzeug in das stehende Fahrzeug hineingefahren ist.
Danach war die Sache bereits wegen der fehlerhaften Anwendung des Anscheinsbeweises an das LG zurückzuverweisen. Entgegen der Auffassung der Revision führt die Anwendung des Anscheinsbeweises allein zu Lasten des Beklagten nicht notwendigerweise zu einer 100-prozentigen Haftung der Beklagten für den Schaden der Klägerin. Vielmehr können die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin und weitere sie erhöhende Umstände im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG Berücksichtigung finden. Dies wird das LG im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben.
Linkhinweis:
- Der Volltext der Entscheidung ist auf den Webseiten des BGH veröffentlicht.
- Um direkt zum Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.