31.10.2014

Prozessunterlagen müssen bei anwaltlicher Vertretung nicht zwangsläufig in Blindenschrift zugänglich gemacht werden

Eine gleichberechtigte Teilhabe am Prozess setzt nicht zwangsläufig voraus, dass der sehbehinderten Partei die Prozessunterlagen in Blindenschrift vorliegen müssen. Ist der Streitstoff übersichtlich und die Partei anwaltlich vertreten, so ist die Annahme gerechtfertigt, dass ihr der Prozessgegenstand ohne Informationsverlust und ohne eine Beschränkung der Teilhabemöglichkeit vom Rechtsanwalt vermittelt wird. Die Fürsorgepflicht des Gerichts erfordert es aber, die Prozessunterlagen in Blindenschrift zugänglich zu machen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht gleichwertig mit der unmittelbaren Kenntnis ist.

BVerfG 10.10.2014, 1 BvR 856/13
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist sehbehindert und wendet sich mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung eines Antrags auf Zugänglichmachung von Prozessunterlagen.

Der Beschwerdeführer beantragte in einem zivilgerichtlichen Berufungsverfahren, die Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zu erhalten. Das LG wies den Antrag zurück. Die Rechtsbeschwerde blieb vor dem BGH ohne Erfolg. Eine blinde oder sehbehinderte Person habe keinen Anspruch aus § 191a GVG in der bis zum 30.6.2014 gültigen Fassung (im Folgenden: § 191a GVG a.F.) i.V.m. § 4 Abs. 1 der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (im Folgenden: ZMV) auf Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens in einer für sie wahrnehmbaren Form, wenn sie in dem Verfahren - wie hier der Beschwerdeführer - durch einen Rechtsanwalt vertreten werde und der Streitstoff so übersichtlich sei, dass er ihr durch den Rechtsanwalt gut vermittelt werden könne.

Mit seiner gegen die gerichtlichen Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3, von Art. 3 Abs. 3 S. 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

Die Gründe:
Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nichtbehinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird. Gesetzgeber und Rechtsprechung sind daher gefordert, bei Gestaltung und Auslegung der Verfahrensordnungen der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass ihre Teilhabemöglichkeit der einer Partei ohne Behinderung gleichberechtigt ist. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen im Ergebnis gerecht.

Es ist zumindest dann mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vereinbar, eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung dennoch nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist. Mit § 191a Abs. 1 GVG a.F. und mit § 4 Abs. 1 ZMV steht eine solche Beschränkung des Anspruchs im Einklang.

Der rechtliche Ausgangspunkt des BGH, wonach bei einer anwaltlichen Vertretung der berechtigten Person ein Anspruch auf Zugänglichmachung ausgeschlossen sein kann, ist mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vereinbar. Eine gleichberechtigte Teilhabe am Prozess setzt nicht zwangsläufig voraus, dass der sehbehinderten Partei die Prozessunterlagen in Blindenschrift vorliegen müssen. Ist der Streitstoff übersichtlich und die Partei anwaltlich vertreten, so ist grundsätzlich die Annahme gerechtfertigt, dass ihr der Prozessgegenstand ohne Informationsverlust und ohne eine Beschränkung ihrer Teilhabemöglichkeit von ihrem Rechtsanwalt vermittelt wird, zumal ihre Unterrichtung zu seinen Pflichten gehört.

Die aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG folgende Verantwortung der Gerichte für die gleichberechtigte Teilhabemöglichkeit einer Person mit Behinderung endet aber nicht damit, dass sie durch einen Rechtsanwalt vertreten wird. Einem Verlangen auf Zugänglichmachung des Prozessstoffs ist daher weitergehend auch dann zu entsprechen, wenn dem Gericht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung trotz der Beschränktheit des Streitstoffs nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist. Damit ist zugleich der Möglichkeit einer sehbehinderten Person zur Überwachung ihres Prozessbevollmächtigten in angemessener Weise Rechnung getragen. Kommt dieser seiner Pflicht zur Kenntnisverschaffung nicht in ausreichender Weise nach, kann sie dies dem Gericht gegenüber vortragen und (erneut) die Zugänglichmachung der Prozessunterlagen verlangen; bei entsprechenden Anhaltspunkten muss das Gericht im Rahmen seiner Fürsorgepflicht dies von selbst veranlassen.

Die Entscheidung, ob von einer unmittelbaren Zugänglichmachung der Prozessunterlagen abgesehen werden kann, obliegt grundsätzlich den Fachgerichten und ist einer nur eingeschränkten Kontrolle durch das BVerfG zugänglich. Im Streitfall begegnet sie keinen Bedenken. Nach den Feststellungen des LG war der Streitstoff so übersichtlich, dass er dem Beschwerdeführer durch seinen Rechtsanwalt gut vermittelbar war. Wenn LG und BGH daher davon ausgegangen sind, dass eine Zugänglichmachung der Prozessunterlagen auch in einer für den Beschwerdeführer unmittelbar wahrnehmbaren Form nicht erforderlich war, ist dies nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für eine gleichwohl nur unzureichende Kenntnisvermittlung durch seinen Prozessbevollmächtigten sind nicht ersichtlich und werden von dem Beschwerdeführer auch nicht dargelegt. Sein allgemeiner Hinweis, dass er nicht die gleiche Möglichkeit gehabt habe, die Tätigkeit seines Bevollmächtigten zu überwachen, genügt insoweit nicht.

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BVerfG PM Nr. 97 vom 31.10.2014
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