16.05.2017

Rechtsirrtum bei Einlegung der Berufung in einer WEG-Sache beim unzuständigen Berufungsgericht aufgrund unrichtiger Rechtsmittelbelehrung

Der Rechtsanwalt unterliegt in aller Regel einem unverschuldeten Rechtsirrtum, wenn er die Berufung in einer Wohnungseigentumssache aufgrund einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Berufungsgericht einlegt. Ein vermeidbarer Rechtsirrtum ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung schon dann entschuldbar, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist.

BGH 9.3.2017, V ZB 18/16
Der Sachverhalt:
Die Parteien sind Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. In dem Garten sind den Klägern einerseits und der Beklagten andererseits Sondernutzungsrechte an angrenzenden Flächen zugewiesen. Auf der Sondernutzungsfläche der Beklagten befindet sich an der gemeinsamen Grenze eine 3,50 m hohe Thujenhecke. Mit der vor dem AG Bautzen erhobenen Klage verlangen die Kläger - soweit von Interesse - den Rückschnitt der Hecke auf 1,80 m nebst vorgerichtlichen Anwaltskosten.

Nachdem das Verfahren zunächst als allgemeine Zivilsache angesehen worden war, erfolgte die Abgabe an die für Wohnungseigentumssachen zuständige Amtsrichterin. Diese gab der Klage statt. Das Urteil wurde der Beklagten am 12.10.2015 zugestellt. In der Rechtsmittelbelehrung wird das LG Görlitz als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet. Mit einem am 12.11.2015 eingegangenen Schriftsatz legte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten Berufung bei dem LG Görlitz ein. Am 14.12.2015, einem Montag, beantragte er die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist.

Nach einem am 15.12.2015 erfolgten gerichtlichen Hinweis auf die Unzuständigkeit des LG Görlitz legte er am 21.12.2015 Berufung bei dem LG Dresden als dem gem. § 72 Abs. 2 S. 1 GVG für Wohnungseigentumssachen zuständigen Berufungsgericht ein. Zugleich begründete er das Rechtsmittel und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das LG Dresden wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig.

Auf die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Beklagten hob der BGH den Beschluss des LG Dresden auf, gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist und verwies die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das LG Dresden zurück.

Die Gründe:
Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung des Amtsgerichts hat dazu geführt, dass die Beklagte die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt hat. Aus diesem Grund ist ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowohl gegen die Versäumung der Berufungs- als auch der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren (§ 233 ZPO).

Die Wiedereinsetzung setzt zunächst voraus, dass die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung kausal für die Versäumung der Fristen war. Daran bestehen nach dem tatsächlichen Ablauf keine Zweifel, weil der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung befolgt hat. Die Beklagte hat die Fristen unverschuldet versäumt. Das Berufungsgericht überspannt die Anforderungen an einen entschuldbaren Rechtsirrtum, indem es ihn mit der Begründung verneint, eine eigene Rechtsprüfung des Prozessbevollmächtigten der Beklagten habe aufgrund der besonderen Zuständigkeitsregelung in § 72 Abs. 2 GVG nahegelegen.

Damit stützt es seine Entscheidung der Sache nach ausschließlich auf die Vermeidbarkeit des Rechtsirrtums und lässt außer Acht, dass ein vermeidbarer Rechtsirrtum nach höchstrichterlicher Rechtsprechung schon dann entschuldbar ist, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist. Die entscheidende Frage, ob die Rechtsmittelbelehrung offenkundig fehlerhaft war, erörtert das Berufungsgericht nicht. Dies ist dann anzunehmen, wenn die Rechtsmittelbelehrung - ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand - nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte; unter dieser Voraussetzung ist die Vermutung des fehlenden Verschuldens gem. § 233 S. 2 ZPO widerlegt. Hiernach bemisst sich, ob der Rechtsirrtum nachvollziehbar ist oder nicht.

Nach diesem Maßstab unterliegt der Rechtsanwalt in aller Regel - und auch hier - einem unverschuldeten Rechtsirrtum, wenn er die Berufung in einer Wohnungseigentumssache aufgrund einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Berufungsgericht einlegt. Denn eine solche Rechtsmittelbelehrung ist regelmäßig nicht offenkundig in einer Weise fehlerhaft, dass sie - ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand - nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermag.

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