Schützt Blasenschwäche vor Fahrverbot?
OLG Hamm 10.10.2017, 4 RBs 326/17Der seinerzeit 61 Jahre alte Betroffene war im Februar 2017 mit seinem Audi auf der Bundesstraße 68 unterwegs. Er überschritt die außerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit um 29 km/h. Hierfür belegte ihn die Bußgeldbehörde mit einer Geldbuße von 80 € und verhängte gem. § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV ein einmonatiges Fahrverbot, weil der Betroffene bereits im November 2016 wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 28 km/h außerorts mit einem Bußgeld belegt worden war.
In der Verhandlung der Bußgeldsache vor dem AG trug der Betroffene - unwiderlegt - vor, er verfüge nach einer Prostataoperation nur noch über eine eingeschränkte Kontinenz. Zu der Geschwindigkeitsüberschreitung sei es gekommen, als er während der Fahrt einen starken, schmerzhaften Harndrang verspürt habe, so dass er nur noch darauf fokussiert gewesen sei, "rechts ran fahren" zu können. Aufgrund des dichten Verkehrs auf der Bundesstraße habe er allerdings zunächst keine Gelegenheit zum Anhalten finden können.
Das AG beließ es bei der Geldbuße von 80 € und dem angeordneten Regelfahrverbot. Auf die vom Betroffenen eingelegte Rechtsbeschwerde hat das OLG die Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurückverwiesen. Der Beschluss ist rechtskräftig.
Die Gründe:
Die Begründung im angefochtenen Urteil zum Rechtsfolgenausspruch wies einen durchgreifenden Erörterungsmangel zu Lasten des Betroffenen auf. Es ist nämlich in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein sehr starker Drang zur Verrichtung der Notdurft, der durch die besondere körperliche Disposition des Betroffenen bedingt ist (etwa: Krankheit, Gebrechen oder Schwangerschaft) und der ursächlich für die Geschwindigkeitsüberschreitung war (in dem Sinne, dass so versucht wurde, baldmöglichst eine Toilette aufsuchen zu können oder der Betroffene abgelenkt war), ein Grund sein kann, vom Regelfahrverbot abzusehen.
Dies ist aber keineswegs der Normalfall. Der bloße Umstand einer bestimmten körperlichen Disposition reicht insoweit noch nicht, andernfalls würde der betroffene Personenkreis gleichsam einen "Freibrief" für pflichtwidriges Verhalten im Straßenverkehr erhalten. Grundsätzlich muss ein Betroffener mit einer solchen körperlichen Disposition seine Fahrt entsprechend planen, gewisse Unwägbarkeiten (wie etwa Stau, Umleitungen etc.) in seine Planungen einstellen und entsprechende Vorkehrungen treffen oder ggfls. auf anfänglich aufgetretenen Harn- oder Stuhldrang rechtzeitig reagieren, damit ihn ein starker Drang zur Verrichtung der Notdurft nicht zu pflichtwidrigem Verhalten verleitet
Infolgedessen muss der Bußgeldrichter die näheren Umstände einer solchen Fahrt auch in die Erwägungen zur Rechtsfolgenbemessung einbeziehen, was das angefochtene Urteil im vorliegenden Fall nicht erkennen ließ. Bei der erneuten Verhandlung muss der Tatrichter die Umstände berücksichtigen, unter denen sich der Betroffene zu der Fahrt entschlossen hatte, und aufklären, wie der Betroffene auf seinen Harndrang während der Fahrt hatte reagieren können. Weiter muss geprüft werden, ob das Auftreten eines dringenden Harndrangs eine Situation darstellt, in welche der Betroffene häufiger kommt. In diesem Fall muss er sich nämlich hierauf entsprechend einstellen. Es würde das Maß seiner Pflichtwidrigkeit gerade zu erhöhen, wenn er gleichwohl ein Fahrzeug führt, obwohl er - wie er selbst angegeben hatte - wegen quälenden Harndrang so "abgelenkt" gewesen war, dass er der zulässigen Höchstgeschwindigkeit keine Beachtung mehr schenken konnte.
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