Schweizer Schlichtungsbehörde ist Gericht i.S.d. Lugano-II-Übereinkommens
EuGH 20.12.2017, C-467/16Die Klägerin ist in der Schweiz wohnhaft und die leibliche Tochter von Frau S, die sich in einem Pflegeheim in Deutschland befindet und ergänzende Sozialhilfeleistungen von deutschen Behörden erhält. Diese sind nach deutschem Recht verpflichtet, die Erstattung dieser Leistungen bei vorhandener Leistungsfähigkeit gegenüber leiblichen Kindern einzufordern.
Im Oktober 2015 forderten die deutschen Behörden mit einem Schlichtungsgesuch, das sie bei einer für zivilrechtliche Ansprüche zuständigen Schweizer Schlichtungsbehörde einreichten, die Klägerin zur Zahlung eines Mindestbetrags von 5.000 € als Erstattung der von ihnen an ihre Mutter gezahlten Sozialleistungen auf. Da der Schlichtungsversuch scheiterte, erhoben die deutschen Behörden im Mai 2016 beim Kantonsgericht Schaffhausen (Schweiz) eine Klage gegen die Klägerin auf Zahlung des vorgenannten Betrags.
Im Februar 2016, d.h. nach der Stellung des oben genannten Schlichtungsantrags, jedoch vor der Anrufung des Kantonsgerichts Schaffhausen, reichte die Klägerin beim AG Klage ein, mit der sie die Feststellung beantragte, dass sie nicht zur Rückzahlung der fraglichen Leistungen an die deutschen Behörden verpflichtet sei. Werden bei Gerichten verschiedener durch das - im Ausgangsverfahren anwendbare - Lugano-II-Übereinkommen gebundener Staaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt nach diesem Übereinkommen das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
Das mit der Klage befasste AG setzte das Verfahren aus und möchte im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens vom EuGH wissen, ob eine Schweizer Schlichtungsbehörde ein Gericht im Sinne des Übereinkommens darstellt, so dass es wegen deren vorheriger Anrufung in Unterhaltssachen dazu verpflichtet wäre, das Verfahren auszusetzen.
Die Gründe:
Bei einem obligatorisch durchzuführenden Schlichtungsverfahren stellt eine Schweizer Schlichtungsbehörde, die bei zivilrechtlichen Klagen vorgeschaltet ist, ein Gericht i.S.d. Lugano-II-Übereinkommens dar.
Der Begriff "Gericht" umfasst gem. Art. 62 des Übereinkommens jede Behörde, die von einem durch das Übereinkommen gebundenen Staat als für die vom Übereinkommen erfassten Gebiete zuständig bezeichnet worden ist. Des Weiteren geht aus dem erläuternden Bericht zu dem Übereinkommen hervor, dass dieser Artikel einen funktionalen Ansatz verankert, nach dem eine Behörde aufgrund der von ihr ausgeübten Funktionen und nicht nach ihrer formalen Einordnung im nationalen Recht als Gericht bestimmt wird.
Nach Schweizer Recht muss der Einleitung eines zivilen Gerichtsverfahrens in der Regel ein Schlichtungsverfahren vorangehen; die Nichtbeachtung dieser Verpflichtung führt zur Unzulässigkeit einer etwaigen Klageerhebung. Das Schlichtungsverfahren (das auch dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens unterliegt) kann entweder zu einem rechtskräftigen Entscheid oder zu einem Urteilsvorschlag führen, der die Wirkungen eines rechtskräftigen Entscheids erlangen kann, wenn er nicht abgelehnt wird, oder zur Genehmigung einer Einigung oder der Erteilung einer Bewilligung der Klageerhebung bei einem Gericht führen.
Zudem sind die Schlichtungsbehörden zum einen den Verfahrensgarantien des Schweizer Rechts im Hinblick auf die Ausstandsgründe der Friedensrichter unterworfen, aus denen sie zusammengesetzt sind, und zum anderen üben sie ihre Funktionen in vollkommener Unabhängigkeit aus. Vor diesem Hintergrund können die Schweizer Schlichtungsbehörden bei der Ausübung der ihnen übertragenen zivilrechtlichen Aufgaben als "Gericht" i.S.d. Übereinkommens eingeordnet werden.
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