30.10.2015

Unfall mit Todesfolge kann bei einem erheblichen Mitverschulden des Unfallgegners nicht vorhersehbar sein

Ein Mitverschulden des Unfallgegners kann die Vorhersehbarkeit eines Unfalls und seiner Folgen für den Unfallverursacher ausschließen, wenn das Mitverschulden in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht. Die vorsätzliche Begehung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes ist dabei bei gebotener wertender Betrachtung als gänzlich vernunftwidriges Verhalten anzusehen.

OLG Hamm 20.8.2015, 5 RVs 102/15
Der Sachverhalt:
Der zum Unfallzeitpunkt 42-jährige Unfallverursacher fuhr im April 2014 mit seinem Transporter Hyundai im Stadtgebiet von Essen auf der Halterner Straße aus Gelsenkirchen kommend in Richtung BAB 40. Er beabsichtigte, die mit einer Ampelanlage ausgestattete Kreuzung Halterner Straße/Ottostraße geradeaus zu überqueren. Von links kommend näherte sich der Unfallgegner mit seinem Pkw Mazda, um die Kreuzung aus seiner Sicht ebenfalls geradeaus zu überqueren.

Im Kreuzungsbereich ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h begrenzt. Der Angeklagte fuhr mit mindestens 65 km/h in den Kreuzungsbereich ein, der Unfallgegner fuhr ca. 30 km/h. Beide Fahrzeugführer überquerten mit einem geringen zeitlichen Abstand die jeweils für sie geltende Haltelinie. Welcher von ihnen einen Rotlichtverstoß begangen hatte, ließ sich nicht klären. Trotz eingeleiteten Bremsmanövers kollidierte der Transporter im Kreuzungsbereich mit der rechten Fahrzeugseite des Mazdas. Der Beifahrer des Mazdas erlitt dabei so schwere Verletzungen, dass er wenige Wochen später verstarb.

Das LG hatte nach der Beweisaufnahme einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung als dem verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten und dem Unfall angenommen und den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Köperverletzung zu einer - in der Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzten - Freiheitsstrafe von sechs Monaten und einem dreimonatigen Fahrverbot verurteilt. Nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten) war das Gericht zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass der Unfallgegner bei Rot in die Kreuzung eingefahren war. Infolgedessen wurde das verkehrswidrige Mitverschulden strafmildernd berücksichtigt. Allerdings schließe es die Vorhersehbarkeit des Unfalls mit seinen Folgen für den Angeklagten nicht aus, so die Richter.

Auf die Revision des Angeklagten hob das OLG das landgerichtliche Urteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des LG zurück.

Die Gründe:
Zwar wurde der Unfall mit seinen erheblichen Folgen rechtsfehlerfrei dem fahrlässigen Geschwindigkeitsverstoß des Angeklagten zugerechnet. Denn wäre der Angeklagte beim Passieren der Haltlinie durch den Unfallgegner nur 50 km/h gefahren, hätte der Mazda die Unfallstelle bereits passiert, bevor sie der Transporter des Angeklagten erreicht hätte.

Allerdings ist noch nicht eindeutig geklärt, ob der vom LG zugunsten des Angeklagten unterstellte Rotlichtverstoß des Unfallgegners die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Angeklagten ausgeschlossen hat. Denn ein Mitverschulden des Unfallgegners kann die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Verursacher ausschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht. Entgegen der Ansicht des LG lassen sich Rotlichtverstöße nicht pauschal als "nicht gänzlich vernunftwidrig" einstufen. Ein wesentliches Kriterium für ihre Bewertung ist gerade mit Blick auf ihre Folgen die Frage, wie lange die Ampel im Zeitpunkt des Verstoßes schon Rotlicht gezeigt hatte.

So wird der sog. qualifizierte Rotlichtverstoß (länger als eine Sekunde Rot) bereits durch die Bußgeldkatalogverordnung als grobe Pflichtverletzung bewertet. Im Übrigen wiegt ein vorsätzlich begangener Rotlichtverstoß deutlich schwerer als ein fahrlässiger Verstoß. Die vorsätzliche Begehung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes ist dabei bei gebotener wertender Betrachtung als gänzlich vernunftwidriges Verhalten anzusehen. Im vorliegenden Fall kommt es deshalb darauf an, ob sich nähere Feststellungen zum Rotlichtverstoß des Unfallbeteiligten treffen lassen. Dies muss das LG in der erneuten Verhandlung klären, wobei verbleibende Zweifel nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen sind.

OLG Hamm PM v. 27.10.2015