17.10.2016

Unionsrecht ist für durch Dritte nach dem Tod eines Ehegatten in Gang gesetzte Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe anwendbar

Das Unionsrecht ist auf ein Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe anwendbar, das von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetzt wurde. Allerdings kann sich eine andere Person als einer der Ehegatten, die ein solches Verfahren in Gang setzt, nur auf manche der unionsrechtlich vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen.

EuGH 13.10.2016, C-294/15
Der Sachverhalt:
Im Jahr 2012 erhob die Klägerin bei einem polnischen Gericht eine Klage auf Ungültigerklärung der im Jahr 1956 in Paris zwischen (dem 1971 verstorbenen) Stefan Czarnecki und Marie Louise Czarnecka (Beklagte) geschlossenen Ehe. Sie brachte dazu vor, die testamentarische Erbin der im Juni 1999 verstorbenen ersten Ehegattin von Stefan Czarnecki, Zdzisława Czarnecka, zu sein. Nach Ansicht der Klägerin bestand die 1937 in Polen zwischen Stefan Czarnecki und Zdzisława Czarnecka geschlossene Ehe zum Zeitpunkt der Eheschließung zwischen Stefan Czarnecki und der Beklagten noch, sodass es sich bei der zuletzt genannten Ehe um eine bigamische Verbindung gehandelt habe, die aus diesem Grund für ungültig erklärt werden müsse.

Die Beklagte beantragte ihrerseits, die Eheungültigkeitsklage wegen Unzuständigkeit der polnischen Gerichte als unzulässig abzuweisen. Ihrer Auffassung nach hätte diese Klage vor einem französischen Gericht erhoben werden müssen. Nach polnischem Recht kann jeder die Ungültigerklärung der Ehe wegen des Weiterbestehens einer früheren Ehe eines der Ehegatten fordern, der daran ein rechtliches Interesse hat. Die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, insbesondere für Zivilsachen, die die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe zum Gegenstand haben.

Gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich dieser Verordnung sind für Fragen in diesen Angelegenheiten u.a. die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet (1.) der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, oder (2.) der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist.

Das mit der Sache befasste Berufungsgericht in Polen ersucht den EuGH um Klärung, ob zum einen die Verordnung auf Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe anwendbar ist, die von einer anderen Person als einem der Ehegatten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetzt wurden, und ob zum anderen eine solche Person sich auf die in der zitierten Verordnungsbestimmung vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen kann.

Die Gründe:
Die Verordnung zählt zu den Gegenständen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, die Ungültigerklärung einer Ehe, ohne nach dem Zeitpunkt der Einleitung eines solchen Verfahrens in Bezug auf den Tod eines der Ehegatten oder nach der Identität der zur Ingangsetzung eines solchen Gerichtsverfahrens befugten Person zu differenzieren. Im Übrigen zählt ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren nicht zu den vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossenen Angelegenheiten.

Eine solche Auslegung wird auch durch das mit der Verordnung verfolgte Ziel bestätigt, zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beizutragen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Der Ausschluss eines Eheungültigkeitsverfahrens vom Anwendungsbereich der Verordnung könnte die mit dem Fehlen eines einheitlichen Regelungsrahmens in diesem Bereich verbundene Rechtsunsicherheit verstärken. Der Umstand, dass sich die Ungültigkeitsklage gegen eine durch den Tod eines der Ehegatten bereits aufgelöste Ehe richtet, bedeutet nicht, dass diese Klage nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass jemand ein rechtliches Interesse daran haben kann, eine Ehe auch nach dem Tod eines der Ehegatten noch für ungültig erklären zu lassen.

Zwar ist ein solches Interesse nach Maßgabe der anwendbaren innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu beurteilen, doch besteht kein Grund, einem Dritten, der nach dem Tod eines der Ehegatten ein Eheungültigkeitsverfahren in Gang gesetzt hat, die Inanspruchnahme der von der Verordnung vorgesehenen einheitlichen Kollisionsnormen zu versagen. Insoweit ist also festzustellen, dass ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt. Hinsichtlich der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen gilt, dass diese Bestimmungen den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter bestimmten Bedingungen die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Auflösung einer Ehe verleihen.

Die von der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln sind auf die Wahrung der Interessen der Ehegatten, auf die Rücksichtnahme auf die Freizügigkeit der Personen und auch auf den Schutz der Rechte des Ehegatten, der den Staat des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat, gerichtet. Daraus ist zu schließen, dass ein von einem Dritten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren zwar in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt, dieser Dritte aber an die zugunsten der Ehegatten festgelegten Zuständigkeitsregeln gebunden bleiben muss. Folglich erfasst der Begriff des "Antragstellers" im Sinne der Verordnung keine anderen Personen als die Ehegatten, sodass Dritte sich nicht auf die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen können.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 111 vom 13.10.2016