01.04.2014

Zum Anscheinsbeweis und zur Haftungsfrage bei ungeklärtem Ablauf eines Kettenauffahrunfalls

Der durch das Auffahren des hinteren Fahrzeugs beim Vordermann verursachte Schaden kann bei einem Kettenauffahrunfall hälftig zu teilen sein, wenn der Ablauf der Zusammenstöße der beteiligten Fahrzeuge nicht mehr aufzuklären ist. Schließlich liegt der vom Beweis des ersten Anscheins vorausgesetzte typische Geschehensablauf nicht vor, wenn nicht feststeht, ob das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist.

OLG Hamm 6.2.2014, 6 U 101/13
Der Sachverhalt:
Im Mai 2011 waren der Kläger mit seinem von seiner Frau gefahrenen Pkw Renault Grand Scénic und die Beklagte mit ihrem Pkw Renault Clio an einem Kettenauffahrunfall in Gronau beteiligt. Dabei prallte die Beklagte mit ihrem Fahrzeug als letzte der an dem Unfall insgesamt beteiligten vier Fahrzeuge auf das vor ihr fahrende Fahrzeug des Klägers. Das Fahrzeug des Klägers erlitt neben dem durch das Auffahren der Beklagten verursachten Heckschaden durch eine Kollision mit dem ihm vorausfahrenden Fahrzeug auch einen Frontschaden.

Im Prozess konnte nicht mehr aufgeklärt werden, ob die Ehefrau des Klägers unter Verkürzung des Bremsweges für die ihr folgende Beklagte zuerst auf das ihr vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren war oder ob die Beklagte das klägerische Fahrzeug erst durch ihr Auffahren auf das vor dem klägerischen Pkw befindliche Fahrzeug aufgeschoben hatte. Mit der Begründung, ein Beweis des ersten Anscheins spreche für die Unaufmerksamkeit der auffahrenden Beklagten verlangte der Kläger von ihr jedenfalls 100%igen Ersatz des an seinen Wagen entstandenen Heckschadens von ca. 5.300 €.

Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils entschieden, dass die Beklagten für den dem Kläger durch das Unfallgeschehen entstandenen Heckschaden an seinem zum Unfallzeitpunkt von seiner Ehefrau gelenkten Fahrzeug mit einer Quote von 50% haften.

Die Gründe:
Die anteilige Haftung der Beklagten folgte dem Grunde nach aus den §§ 7, 17, 18 StVG, 823 BGB i.V.m. § 115 VVG.

Der Kläger konnte sich nicht auf einen Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden der auffahrenden Beklagten berufen. Dass ein Verschulden der Beklagten die Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges erhöht hatte, stand nicht fest. Es war weder bewiesen noch ergab es sich aus einem Beweis des ersten Anscheins.

Zwar spricht bei gewöhnlichen Auffahrunfällen regelmäßig der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Auffahrende mit einem zu geringen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug gefahren ist oder zu spät reagiert hat. Dieser Beweis des ersten Anscheins ist allerdings bei Kettenauffahrunfällen wie dem vorliegenden nicht anzuwenden. Schließlich liegt der vom Beweis des ersten Anscheins vorausgesetzte typische Geschehensablauf nicht vor, wenn nicht feststeht, ob das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist. In einem solchen Fall besteht nämlich die Möglichkeit, dass der Vorausfahrende für den auffahrenden Verkehrsteilnehmer unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges "ruckartig" zum Stehen gekommen ist, in dem er seinerseits auf seinen Vordermann aufgefahren ist.

Da auch ein Verschulden der Ehefrau des Klägers nicht festgestellt werden konnte, war es gerechtfertigt, die Betriebsgefahr der Fahrzeuge der beiden Parteien gleich hoch zu bewerten und eine Haftungsteilung zu gleichen Teilen vorzunehmen.

Linkhinweis:

OLG Hamm PM v. 1.4.2014
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