11.10.2011

Zur Fortsetzung des Verfahrens wegen Einführung neuen Prozessstoffs in einem nach Ende der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz

Räumt das Gericht einer Partei ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis ein und wird in einem daraufhin eingegangenen Schriftsatz neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff eingeführt, so muss das Gericht die mündliche Verhandlung wiedereröffnen oder in das schriftliche Verfahren übergehen. Anderenfalls wird das Recht des Gegners auf rechtliches Gehör verletzt.

BGH 20.9.2011, VI ZR 5/11
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Der Kläger wurde im August 2006 in der von der Beklagten betriebenen Klinik wegen eines Plattenepithelkarzinoms im Mundraum einem über 14 Stunden dauernden operativen Eingriff unterzogen. Die Operation gliederte sich in verschiedene Abschnitte, über die jeweils gesonderte Operationsberichte und Operationsprotokolle erstellt wurden.

Während der ersten 37 Minuten der Operation wurde eine Tracheotomie vorgenommen. Nach der Operation wurden beim Kläger Drucknekrosen am Rücken, Kopf, Gesäß und rückseitigen Oberschenkel festgestellt. Der Kläger führt diese Veränderungen auf von der Beklagten zu verantwortende Fehler bei der Lagerung im Rahmen der Operation zurück.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Es ist unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Annahme gelangt, der Kläger sei ordnungsgemäß auf dem Operationstisch gelagert worden.

Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das OLG seiner Überzeugungsbildung die erst mit nachgelassenem Schriftsatz vom 8.11.2010 und damit nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegten Operationsprotokolle über die Neck-Dissection, die Tumorresektion und den mikrochirurgischen Gewebetransfer sowie den Arbeitszeiterfassungsausdruck zugrunde gelegt hat, ohne zuvor die Verhandlung wieder zu eröffnen, um dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und über das Beweisergebnis zu verhandeln (§ 285 ZPO).

Hierdurch hat das Gericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern. Das Gericht darf nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten.

Räumt das Gericht einer Partei ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis ein und wird in einem daraufhin eingegangenen Schriftsatz neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff eingeführt, so muss das Gericht die mündliche Verhandlung wiedereröffnen oder in das schriftliche Verfahren übergehen, um dem Gegner rechtliches Gehör zu gewähren. Dies gilt umso mehr, wenn - wie im Streitfall - im nachgelassenen Schriftsatz präsente Beweismittel vorgelegt werden, die gem. § 285 Abs. 1 ZPO zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung zu machen sind.

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