16.01.2017

Zur Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen gem. § 829 BGB

Ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB ist nicht schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern. Gem. § 829 BGB sind insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zu berücksichtigen, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein "wirtschaftliches Gefälle" zugunsten des Schädigers vorliegen muss.

BGH 29.11.2016, VI ZR 606/15
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schmerzensgeld aus §§ 829, 253 Abs. 2 BGB in Anspruch. Der Kläger ist seit 1990 Lokführer im Fernverkehr der Deutschen Bahn AG. Er war bereits mehrfach - das vorletzte Mal im August 2010 - in Unfälle verwickelt, bei denen Personen sich das Leben nahmen. Am 24.12.2011 wollte der Kläger als Lokführer eines IC am Hauptbahnhof Hannover aus Gleis 11 abfahren. Der Beklagte saß auf einer Bank an diesem Gleis. Als der Zug anfuhr, sprang er plötzlich unmittelbar vor dem IC auf das Gleisbett. Der Kläger konnte den Zug mit einer Schnellbremsung stoppen, so dass der Beklagte nicht verletzt wurde.

Der Beklagte ist seit längerem ernsthaft psychiatrisch erkrankt und drogenabhängig. Im Zeitpunkt des Vorfalls stand er unter Betreuung und befand sich wegen einer akuten Psychose in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. Derzeit absolviert er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Über eigenes Vermögen verfügt er nicht. Er ist über seine Mutter haftpflichtversichert.

Der Kläger war nach dem Vorfall bis Ende Juli 2012 krankgeschrieben. Er behauptet, aufgrund des Vorfalls eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten zu haben. Nachdem in einem Vorprozess seine Klage gegen die Mutter und damalige Betreuerin des Beklagten mangels Verletzung einer Aufsichtspflicht abgewiesen worden ist, verlangt er nunmehr von dem Beklagten Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 6.000 € aus Billigkeitsgründen nach §§ 829, 253 Abs. 2 BGB.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Die Revision des Klägers hatte vor dem BGH keinen Erfolg.

Gründe:
Das OLG hat eine Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen gem. § 829 BGB im Ergebnis rechtsfehlerfrei verneint.

Die verschuldensunabhängige Haftung aus § 829 BGB bildet im deliktischen Haftungssystem eine Ausnahme. Deswegen ist nach ständiger BGH-Rechtsprechung ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB nicht schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern. Nach § 829 BGB sind insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung zu berücksichtigen. Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein "wirtschaftliches Gefälle" zugunsten des Schädigers vorliegen muss.

Als ein für die Vermögenslage des Schädigers bedeutsamer Umstand ist das Bestehen einer Pflichtversicherung wie der Kfz-Pflichthaftpflichtversicherung anzuerkennen, da deren Zweck in erster Linie auf den Schutz des Geschädigten ausgerichtet ist. Diese besondere Zweckbestimmung der Pflichthaftpflichtversicherung im Kfz-Verkehr rechtfertigt im Rahmen des § 829 BGB die Durchbrechung des Trennungsprinzips, demzufolge die Eintrittspflicht des Versicherers der Haftung folgt und nicht umgekehrt die Haftung der Versicherung. Das Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung rechtfertigt die Durchbrechung des Trennungsprinzips hingegen grundsätzlich nicht und kann daher - auch im Rahmen des § 829 BGB - jedenfalls nicht anspruchsbegründend wirken.

Ein gesetzlicher Direktanspruch des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer besteht, anders als bei der Pflichtversicherung, nicht. Die Pflicht des Versicherers, den Versicherungsnehmer von begründeten Haftpflichtansprüchen freizustellen und unbegründete Ansprüche abzuwehren (§ 100 VVG), folgt nach wie vor dem Grundsatz, dass der Freistellungsanspruch eine Haftung des Schädigers voraussetzt und die Haftpflichtversicherung nicht dazu bestimmt ist, eine Haftung des Schädigers gegen den Geschädigten erst zu begründen.

Besteht aber kein Versicherungsschutz, kann dieser auch keinen in den Vergleich der Vermögenslagen einzubeziehenden Vermögenswert des Schädigers darstellen. Jedenfalls erfordert es die Billigkeit nicht, dem Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung für die Frage des "Ob" der Haftung ungeachtet des Trennungsprinzips eine maßgebliche Bedeutung zukommen zu lassen. Das gilt erst recht dann, wenn die anderweitigen wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten eine Haftung nach § 829 BGB nicht rechtfertigen oder ihr sogar entgegenstehen würden.

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