Zur Prüfung des Zustandeskommens eines "Deals" im Strafverfahren durch Rechtsmittelgerichte
BVerfG 5.3.2012, 2 BvR 1464/11Das Schöffengericht hatte den Beschwerdeführer, der sich zur Zeit der Hauptverhandlung in Untersuchungshaft befand, wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit gewerbsmäßiger Hehlerei auf Grundlage seines Geständnisses zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Dem Protokoll zufolge wurde die Hauptverhandlung für ein "Rechtsgespräch" unterbrochen. Die Staatsanwältin beantragte danach die oben genannte Gesamtfreiheitsstrafe sowie die Aufhebung des Haftbefehls. Nach der Urteilsverkündung und der Aufhebung des Haftbefehls verzichteten Staatsanwaltschaft und Beschwerdeführer auf Rechtsmittel.
Der Beschwerdeführer legte später Berufung gegen das Urteil ein und machte die Unwirksamkeit seines Rechtsmittelverzichts geltend, weil die Verurteilung auf einer Absprache zwischen den Verfahrensbeteiligten beruhe. Weder Hauptverhandlungsprotokoll noch Urteil enthalten einen Hinweis auf das Zustandekommen einer Absprache oder die Angabe, dass eine Verständigung nicht erfolgt sei. Im Protokoll ist lediglich das "Rechtsgespräch" vermerkt, dessen Inhalt und Verlauf von den Verfahrensbeteiligten jedoch unterschiedlich geschildert wurde.
Während nach der schriftlichen Erklärung der Verteidigerin des Beschwerdeführers eine Verständigung auf ein Strafmaß von zwei Jahren und zehn Monaten bei gleichzeitiger Aufhebung des Haftbefehls getroffen worden sei, erklärte die Staatsanwältin in ihrer dienstlichen Stellungnahme, es habe kein regelrechtes Gespräch über ein bestimmtes Strafmaß gegeben; ihr sei es vor allem um die Fortsetzung der Untersuchungshaft gegangen, während der Beschwerdeführer in erster Linie eine Aufhebung des Haftbefehls habe erreichen wollen. Der Vorsitzenden des Schöffengerichts konnte sich nicht mehr an Details erinnern.
Das LG verwarf die Berufung des Beschwerdeführers als unzulässig. Die sofortige Beschwerde blieb vor dem OLG erfolglos. Die Annahme der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts sei nicht zu beanstanden. Da das Verhandlungsprotokoll die von § 273 Abs. 1a StPO geforderten Angaben nicht enthalte, sei seine Beweiskraft entfallen. Im Freibeweisverfahren habe der Beschwerdeführer aufgrund der sich widersprechenden Erklärungen den Nachweis einer Verständigung nicht führen können.
Auf die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hob das BVerfG den Beschluss des OLG auf und wies die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Der Beschluss des OLG weicht in einer verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Weise von den Anforderungen an die richterliche Sachaufklärung ab und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Prozessgrundrecht auf ein faires Strafverfahren gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.
Einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts hätte es schon im Hinblick auf die augenfällige Ungereimtheit in der dienstlichen Erklärung der Staatsanwältin bedurft, die einerseits primär das Ziel einer Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft verfolgt haben will, andererseits aber in der Hauptverhandlung selbst die Aufhebung des Haftbefehls beantragt hatte. Ferner hätte das OLG Stellungnahmen der Schöffen und der Urkundsbeamtin einholen müssen, da nach der widerspruchsfreien Erklärung der Verteidigerin die Gespräche im Sitzungssaal fortgesetzt worden sein sollen.
Darüber hinaus hätten verbleibende Zweifel nicht zulasten des Beschwerdeführers gewertet werden dürfen. Zwar ist es grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nach der auch im Freibeweisverfahren gebotenen Sachaufklärung nicht zu beseitigende Zweifel am Vorliegen von Verfahrenstatsachen grundsätzlich zulasten des Angeklagten gehen. Dies gilt jedoch dann nicht mehr, wenn die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts auf einem Verstoß gegen eine gesetzlich angeordnete Dokumentationspflicht beruht.
Die auch als "Deals" bezeichnete Verständigung der Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren über die Rechtsfolgen einer Verurteilung ist seit dem 4.8.2009 gesetzlich in dem neu eingeführten § 257c StPO geregelt. Gegenstand der vorliegenden Verfassungsbeschwerde war der Umfang der Sachaufklärungspflicht der Rechtsmittelgerichte bei der Prüfung, ob eine Verfahrensabsprache zustande gekommen und deshalb ein erklärter Rechtsmittelverzicht unwirksam ist. Die vom BVerfG bislang nicht entschiedene Frage der Vereinbarkeit solcher Absprachen und ihrer gesetzlichen Regelung mit dem GG war hier somit nicht entscheidungserheblich.
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