13.02.2018

Gerichte dürfen Sozialversicherungsbescheinigung von innerhalb der EU entsandten Arbeitnehmern im Fall eines Betrugs außer Acht lassen

Die nationalen Gerichte dürfen die Sozialversicherungsbescheinigung von innerhalb der EU entsandten Arbeitnehmern im Fall eines Betrugs außer Acht lassen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es der ausstellende Träger unterlässt, die Bescheinigung anhand von ihm zur Kenntnis gebrachten Beweisen für Betrug innerhalb einer angemessenen Frist erneut zu prüfen.

EuGH 6.2.2018, C-359/16
Der Sachverhalt:
Die Sozialaufsichtsbehörde in Belgien stellte im Rahmen einer Prüfung hinsichtlich der Beschäftigung der Belegschaft eines im Baubereich tätigen belgischen Unternehmens fest, dass dieses praktisch kein Personal beschäftigte. Stattdessen betraute es mit sämtlichen Arbeiten auf Baustellen bulgarische Unternehmen als Subunternehmer, die Arbeitnehmer nach Belgien entsandten. Die Beschäftigung der betroffenen Arbeitnehmer war bei dem belgischen Träger, der für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge verantwortlich ist, nicht angemeldet worden, da die Arbeitnehmer Bescheinigungen E 101 oder A 1 des zuständigen bulgarischen Trägers besaßen, die attestierten, dass sie dem bulgarischen System der sozialen Sicherheit angehörten (Die Bescheinigung E 101 - heute A 1 - ist ein Standardformular der bei der EU-Kommission eingesetzten Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer.)

Eine im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens eines belgischen Untersuchungsrichters in Bulgarien durchgeführte gerichtliche Untersuchung ergab, dass die bulgarischen Unternehmen in Bulgarien keine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübten. Die belgischen Behörden reichten daher beim zuständigen bulgarischen Träger einen mit Gründen versehenen Antrag auf erneute Prüfung oder Widerruf der fraglichen Bescheinigungen ein. In seiner Antwort übermittelte dieser Träger eine Aufstellung der Bescheinigungen, ohne die von den belgischen Behörden festgestellten und bewiesenen Tatsachen zu berücksichtigen. Die belgischen Behörden leiteten anschließend Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des belgischen Unternehmens ein.

Das Berufungsgericht Antwerpen verurteilte die Betroffenen. Es stellte fest, dass zwar für jeden der entsandten Arbeitnehmer eine Bescheinigung ausgestellt worden sei; es sei hieran jedoch nicht gebunden, weil die Bescheinigungen betrügerisch erwirkt worden seien. Der mit der Rechtssache befasste Kassationsgerichtshof in Belgien hat das Verfahren ausgesetzt und möchte vom EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens wissen, ob die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats eine Bescheinigung E 101 für nichtig erklären oder außer Acht lassen können, wenn der Sachverhalt, über den sie zu befinden haben, ihnen die Feststellung erlaubt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde.

Die Gründe:
Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet den ausstellenden Träger, den maßgeblichen Sachverhalt ordnungsgemäß zu beurteilen und die Richtigkeit der in der Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten. Die Bescheinigung begründet die Vermutung der Ordnungsgemäßheit und bindet folglich grundsätzlich den zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats. Dies gebietet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Solange die Bescheinigung nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, hat deshalb der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Arbeitnehmer bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist; der Träger kann daher den betreffenden Arbeitnehmer nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen.

Es ergibt sich jedoch aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit auch, dass jeder Träger eines Mitgliedstaats eine sorgfältige Prüfung der Anwendung seiner eigenen Regelung der sozialen Sicherheit vorzunehmen hat. Insofern muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung ausgestellt hat, überprüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und diese Bescheinigung ggf. zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats Zweifel an der Richtigkeit des Sachverhalts, der der Bescheinigung zugrunde liegt, geltend macht.

Hinsichtlich der Beilegung etwaiger Streitigkeiten zwischen den Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten über die Gültigkeit oder die Richtigkeit einer Bescheinigung ist zwar das vorgesehene Verfahren (etwa Anrufung der Verwaltungskommission) einzuhalten. Das darf jedoch nicht zur Konsequenz haben, dass sich die Rechtsunterworfenen in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Union berufen können. Dies ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. Nimmt der ausstellende Träger nicht innerhalb einer angemessenen Frist eine erneute Überprüfung vor, müssen daher die Beweise für das Vorliegen eines Betrugs im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden dürfen, um zu erreichen, dass das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats die Bescheinigungen außer Acht lässt.

Allerdings müssen Personen, denen in einem solchen Verfahren zur Last gelegt wird, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung von angeblich betrügerisch erlangten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, im Hinblick auf die mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien die Möglichkeit erhalten, diese Anschuldigungen zu entkräften. Vorliegend kann das nationale Gericht die fraglichen Bescheinigungen außer Acht lassen, da der belgische Träger den bulgarischen Träger mit einem Antrag auf erneute Prüfung und Widerruf der Bescheinigungen im Licht von im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst hat, die die Feststellung erlaubt haben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden, und da der bulgarische Träger es unterlassen hat, diese Beweise zu berücksichtigen. Das nationale Gericht hat ferner festzustellen, ob die Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung von betrügerisch erwirkten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, auf der Grundlage des anwendbaren innerstaatlichen Rechts zur Verantwortung gezogen werden können.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 10 vom 6.2.2018
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