10.07.2025

Manteltarifvertrag: Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitbeschäftigte ab Überschreiten der individuellen Wochenarbeitszeit

Eine tarifvertragliche Regelung, nach der sämtliche Beschäftigte einschließlich der Teilzeitbeschäftigten Mehrarbeitszuschläge erst ab Überschreiten der Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte erhalten, stellt eine gesetzlich verbotene Diskriminierung der Teilzeitbeschäftigten dar. Rechtsfolge ist die gerichtliche "Anpassung nach oben" mit der Folge, dass auch bei Teilzeitbeschäftigten die Überschreitung ihrer individuellen Wochenarbeitszeit die tarifvertragliche Zuschlagspflicht auslöst. Eine Aussetzung des Verfahrens zur Ermöglichung einer Korrektur des Tarifvertrags durch die Tarifvertragsparteien ist jedenfalls dann nicht geboten, wenn ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung zulässig ist.

LAG Berlin-Brandenburg v. 16.5.2025 - 12 Sa 1016/24
Der Sachverhalt:
Im Manteltarifvertrag für die Beschäftigten im Einzelhandel im Land Brandenburg (MTV) haben die Tarifvertragsparteien einen Mehrarbeitszuschlag von 25% bei Überschreitung der tarifvertraglichen Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte von grundsätzlich 38 Stunden geregelt. Die klagende Mitarbeiterin im Verkauf arbeitete in Teilzeit. In einem Zeitraum von sechs Monaten leistete sie über ihre vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit hinausgehend 62 Arbeitsstunden, jedoch in keiner Woche mehr als 38 Arbeitsstunden. 

Die Arbeitnehmerin verlangt mit ihrer Klage unter dem Gesichtspunkt ihrer Diskriminierung als Teilzeitbeschäftigte gegenüber vollzeitig Beschäftigten die Zahlung von Überstundenzuschlägen für 62 Stunden. Dies verweigerte das beklagte Einzelhandelsunternehmen unter Verweis auf die tarifvertragliche Regelung und den grundgesetzlichen Schutz der Tarifautonomie.

Das LAG gab der Klage im Wesentlichen statt. Die Revision zum BAG wurde zugelassen.

Die Gründe:
Es ist davon ausgegangen, dass die Regelung im MTV zum Beginn der Mehrarbeitszuschläge erst ab der 39. Wochenstunde Teilzeitbeschäftigte benachteiligt. Dies folgt daraus, dass der MTV eine einheitliche Untergrenze für Mehrarbeitszuschläge aufstellt, ohne die verringerte Arbeitszeit Teilzeitbeschäftigter durch angepasste Auslösegrenzen zu berücksichtigen. Diese Benachteiligung ist nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt. 

Insbesondere ergibt sich keine Rechtfertigung aus den von dem Einzelhandelsunternehmen herangezogenen arbeitsschutzrechtlichen Begrenzungen der Arbeitszeit. Denn die tarifvertragliche Regelung zu Mehrarbeitszuschlägen stellt auf die Überschreitung der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit ab und damit gerade nicht auf die Überschreitung der regelmäßigen werktäglichen Arbeitszeit von acht Arbeitsstunden oder der gesetzlichen Wochenhöchstarbeitszeit von 48 Stunden. Folge der verbotswidrigen Diskriminierung ist eine Gleichstellung der Teilzeitbeschäftigten durch gerichtliche Entscheidung, wobei die Überschreitung der individuellen Wochenarbeitszeit Mehrarbeitszuschläge im Sinne einer "Anpassung nach oben" auslöst. 

Zwar ist nach der Entscheidung des BVerfG vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21) im Falle eines Verstoßes gegen den grundgesetzlich verankerten allgemeinen Gleichheitssatz grundsätzlich eine tarifvertragliche Korrektur durch die Tarifvertragsparteien vorrangig vor einer gerichtlich festgesetzten Anpassung nach oben zu ermöglichen, ggf. durch die Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens. Dies begründet für den Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot zulasten von Teilzeitbeschäftigten aus § 4 Abs. 1 TzBfG aber nicht die Aussetzung des Verfahrens. Eine gegenüber der "Anpassung nach oben" vorrangige Aussetzung zur Ermöglichung von Tarifverhandlungen ist auf der Grundlage einer instanzgerichtlichen Einschätzung einer Tarifvorschrift als diskriminierend regelmäßig nicht angezeigt, wenn gegen die Entscheidung des Instanzgerichts ein Rechtsmittel zulässig ist.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung
Unzureichende Beachtung der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG durch das BAG bei tariflichen Nachtzuschlägen
BVerfG vom 11.12.2024 - 1 BVR 1109/21
Detlef Grimm / Sebastian Krülls, ArbRB 2025, 72
ARBRB0076736

Aufsatz
Rechtmäßige Ungleichbehandlung in Tarifverträgen
Wolfgang Kleinebrink, ArbRB 2025, 111
ARBRB0077774

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LAG Berlin-Brandenburg PM Nr. 18 vom 9.7.2025