04.05.2015

Massenentlassung setzt Kündigung von mindestens 20 Arbeitnehmern eines einzelnen Betriebs voraus

Die nach der Massenentlassungsrichtlinie bestehenden Informations- und Konsultationspflichten setzten voraus, dass innerhalb eines bestimmten Zeitraums mindestens 20 Arbeitnehmern eines einzelnen Betriebs gekündigt wird. Denn der Begriff "Betrieb" bezieht sich in einem Unternehmen mit mehreren Einheiten nicht auf das gesamte Unternehmen, sondern nur auf die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben konkret zugewiesen sind.

EuGH 30.4.2015, C-80/14
Der Sachverhalt:
Die in Großbritannien tätigen Einzelhandelsketten Woolworths und Ethel Austin wurden nach ihrer Zahlungsunfähigkeit unter Insolvenzverwaltung gestellt. Dies hatte die Erstellung von Sozialplänen für Tausende von Arbeitnehmern im gesamten Vereinigten Königreich zur Folge.

Zu den daraufhin gekündigten Arbeitnehmern gehörte auch die Klägerin des Ausgangsverfahrens. Sie begehrte die Zahlung einer Schutzentschädigung, weil das im britischen Recht vorgesehene Konsultationsverfahren vor Erlass der Sozialpläne nicht eingehalten worden sei. Ihre Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Die Gerichte begründeten die Klageabweisung damit, dass die Klägerin in einem eigenständigen Betrieb mit weniger als 20 Arbeitnehmern gearbeitet habe, so dass die für das Konsultationsverfahren vorgesehene Schwelle nicht erreicht worden sei.

Der mit der Rechtssache im Rechtsmittelverfahren befasste Court of Appeal of England and Wales (Civil Division) legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob sich die Wendung "mindestens 20" in der Richtlinie 98/59/EG auf die Zahl der Entlassungen bezieht, die in sämtlichen Betrieben des Arbeitgebers innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen vorgenommen werden, oder auf die Zahl der in jedem einzelnen Betrieb vorgenommenen Entlassungen. Ferner ersuchte das Gericht den EuGH um eine Klarstellung der Bedeutung des Begriffs "Betrieb".

Der EuGH entschied, dass die Massenentlassungsrichtlinie nur bei der Kündigung von mindestens 20 Arbeitnehmern im einzelnen Betrieb anwendbar ist.

Die Gründe:
Der Begriff des "Betriebs" ist ein unionsrechtlicher Begriff. Er kann daher nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden, sondern ist in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen. Besteht ein Unternehmen aus mehreren Einheiten, wird der "Betrieb" von der Einheit gebildet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen sind.

Die Richtlinie verlangt überdies eine gesonderte Berücksichtigung der in jedem Betrieb vorgenommenen Entlassungen. Das ergibt sich bereits aus dem üblichen Wortsinn des Begriffs "Massenentlassung". Denn würde nicht auf den einzelnen Betrieb abgestellt, sondern auf das gesamte Unternehmen, könnte u.U. schon die Entlassung eines einzelnen Arbeitnehmers in einem Betrieb eine "Massenentlassung" darstellen, wenn nur die Gruppe der im ganzen Unternehmen entlassenen Arbeitnehmer groß genug wäre.

Für diese Auslegung spricht auch, dass die Richtlinie nur ein Mindestmaß an Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen schaffen soll.

Daher besteht eine Informations- und Konsultationspflicht nach der Massenentlassungsrichtlinie nur bei der Entlassung von mindestens 20 Arbeitnehmern eines einzelnen Betriebs eines Unternehmens innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen, nicht aber, wenn die Gesamtzahl der Entlassungen in allen Betrieben oder in bestimmten Betrieben eines Unternehmens innerhalb desselben Zeitraums die Schwelle von 20 Arbeitnehmern erreicht oder übersteigt.

Linkhinweis:
Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des EuGH veröffentlicht. Um direkt zu dem Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 47/15 vom 30.4.2015
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