30.11.2017

Scheinselbstständige Arbeitnehmer können Urlaub ansammeln - Keine Verpflichtung zur Urlaubnahme vor Klärung der Vergütung

Das Unionsrecht verbietet es, einen Arbeitnehmer dazu zu verpflichten, Urlaub zu nehmen, bevor er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat. Ein Arbeitnehmer muss zudem die Möglichkeit haben, nicht ausgeübte Ansprüche auf bezahlten Urlaub über die Beschäftigungszeit anzusammeln, wenn der Arbeitgeber ihm nicht ermöglicht, den Anspruch auf bezahlten Urlaub auszuüben.

EuGH 29.11.2017, C-214/16
Der Sachverhalt:
Der Kläger arbeitete für den britischen Fensterhersteller The "Sash Window Workshop" (SWWL) auf Basis eines "Selbstständigen-Vertrags" ausschließlich gegen Provision 13 Jahre lang bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2012. Jahresurlaub wurde dem Kläger nicht bezahlt.

Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses forderte der Kläger von dem beklagten Unternehmen die Zahlung einer Vergütung für genommenen und nicht bezahlten sowie für nicht genommenen Urlaub für den gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung. Das Unternehmen wies die Forderung zurück. Daraufhin erhob der Kläger Klage vor dem zuständigen britischen Arbeitsgericht. Dieses stellte fest, dass der Kläger Arbeitnehmer i.S.d. britischen Rechtsvorschriften gewesen sei und Anspruch auf Vergütung für bezahlten Urlaub habe.

Das mit der Sache befasste Berufungsgericht legte dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Insbesondere wollte das Gericht wissen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn der Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen muss, bevor er überhaupt feststellen kann, ob er während des Urlaubs weiterhin Anspruch auf Bezahlung hat. Der EuGH verneinte dies.

Die Gründe:
Der Anspruch auf bezahlten Urlaub ist ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union. Er ist ausdrücklich in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgenommen. Der Zweck des Anspruchs liegt darin, dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, sich erholen zu können und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit verfügen zu können.

Ein Arbeitnehmer, der nicht weiß, ob er seinen Urlaub bezahlt bekommt, ist nicht in der Lage, den Urlaub in seiner Gänze zu genießen. Eine solche Unsicherheit kann zudem dazu führen, dass der Arbeitnehmer keinen Urlaub nimmt. Daher verstößt jede Praxis des Arbeitgebers mit abschreckender Wirkung gegen das Recht auf Urlaub und den damit verfolgten Zweck.

Dies ist auch der Fall, wenn der Arbeitnehmer zunächst dazu gezwungen wäre, unbezahlten Urlaub zu nehmen, um dann die Bezahlung einzuklagen. Dies ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.

Schließlich steht das Unionsrecht ebenso einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen es einem Arbeitnehmer verwehrt ist, Ansprüche auf bezahlten Urlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese zu bezahlen, nicht ausgeübt worden sind, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und ggf. anzusammeln. Anders als im Fall eines Arbeitnehmers, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, seinen Urlaub zu nehmen, hat der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Urlaub auszuüben, die entstehenden Folgen zu tragen.

Linkhinweise:

  • Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier. Die veröffentlichte Pressemitteilung finden Sie hier.
  • Einen Experten-Blog-Beitrag zu dieser Entscheidung von Dr. Stefan Sasse finden Sie hier.

 

EuGH PM Nr. 126/17 vom 29.11.2017
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