19.06.2018

Verfassungsbeschwerde zur Zusatzrente im öffentlichen Dienst trotz verfassungsrechtlicher Bedenken erfolglos

Es verstößt nicht gegen das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes, dass die Fachgerichte einen Anspruch ehemaliger Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen des öffentlichen Diensts auf eine höhere Zusatzrente verneint haben, obwohl das Zusatzversorgungsrecht in einzelnen Elementen gegen das Gleichheitsgebot verstößt. Die Fachgerichte dürfen den Tarifvertragsparteien letztmals - nach zuletzt gescheiterten Versuchen - die Möglichkeit geben, die Verstöße vollständig zu beseitigen.

BVerfG 9.5.2018, 1 BvR 1884/17
Der Sachverhalt:
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst erhalten regelmäßig nach Renteneintritt eine Zusatzversorgung über die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL). Die Maßgaben - so auch die Höhe der Zusatzrente - legen die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Diensts mit Tarifvertrag fest. Die VBL übernimmt diese Abschlüsse in ihre Satzung. Bis 2000 galt ein Gesamtversorgungsprinzip, das sich an der Beamtenversorgung anlehnte.

Im Jahr 2002 führten die Tarifvertragsparteien ein neues, beitragsorientiertes Berechnungssystem ein. Bis dahin erworbene Anwartschaften wurden als Startgutschriften in das neue Modell übertragen. Dies geschah für rentennahe und rentenferne Versicherte nach unterschiedlichen Regelungen. Bei rentenfernen Versicherten wird ein vereinfachtes für die Versicherten weniger günstiges Verfahren verwendet. Es enthält ein sog. Näherungsverfahren, das pauschal von 45 Versicherungsjahren ausgeht.

Der BGH beanstandete 2007 die Berechnung der Startgutschriften für rentenferne Versicherte, weil Personen mit ausbildungsbedingt späterem Diensteintritt unangemessen benachteiligt würden und erklärte die Regelung für unverbindlich. Er äußerte sich aber nicht abschließend zur Rechtmäßigkeit des Verfahrens. Zur daraufhin vorgenommenen Änderung des Berechnungsverfahrens entschied er 2016, dass weiterhin eine unangemessene Benachteiligung bestehe. Die Berechnung der Startgutschriften sei daher nicht verbindlich.

Die 1947 geborene Beschwerdeführerin gehört zu den rentenfernen Versicherten. Sie verlangte im Ausgangsverfahren die Zahlung einer höheren Zusatzrente und hilfsweise die Feststellung, dass die Berechnung der Zusatzrente unverbindlich ist. Das OLG gab dem Hilfsantrag statt, wies die Zahlungsklage aber - wie bereits das LG - ab. Der BGH wies die Revision zurück. Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Gründe:
Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sind nicht verletzt. Die Entscheidung der Fachgerichte, ein letztes Mal davon abzusehen, die VBL zur Zahlung einer höheren Zusatzrente an rentenferne Versicherte zu verurteilen, ist mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes im Streitfall vereinbar.

Der BGH und das OLG haben zwar wiederholt entschieden, dass das Verfahren zur Berechnung der Zusatzrente gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Rentenferne Versicherte wie die Klägerin erhalten daher weiterhin eine Zusatzrente, deren Höhe nach Maßgabe verfassungswidriger Regelungen berechnet worden sind. Allerdings haben die Gerichte die Berechnung für unverbindlich erklärt und in den Entscheidungsgründen die Tarifvertragsparteien ausdrücklich aufgefordert, zeitnah ein verfassungskonformes Berechnungsverfahren einzuführen. Zudem haben sie in Aussicht gestellt, andernfalls die VBL zur Zahlung zu verurteilen.

Dies ist im Streitfall vertretbar. Die Fachgerichte wollen einer Entscheidung der Tarifvertragsparteien, denen grundsätzlich die Ausgestaltung des Zusatzversorgungsrechts obliegt, nicht vorgreifen. Die Fachgerichte haben den Tarifvertragsparteien aufgrund der vergangenen erfolglosen Zeit der Änderung letztmals die Möglichkeit gegeben, ein mit dem Grundgesetz vereinbares Berechnungsverfahren zu schaffen. Durch dieses muss die nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung auch rückwirkend beseitigt werden. Der zeitliche Umfang der dafür vom OLG angesetzten Prüfungsphase ist aus rechtsstaatlichen Gründen allerdings zu kurz bemessen.

Ob das Berechnungsverfahren darüber hinaus auch Frauen gegenüber Männern ungleich behandelt, weil typisch weibliche Erwerbsbiografien mit Kindererziehungszeiten nach dem Verfahren regelmäßig zu einer geringeren Zusatzrente führen, ist im Streitfall nicht entscheidungserheblich. Dies werden die Fachgerichte in künftigen Entscheidungen über Zusatzrenten zu prüfen haben.

Linkhinweis:
Für den auf den Webseiten des Bundesverfassungsgerichts veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

BVerfG PM Nr. 48/2018 vom 19.6.2018
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