23.04.2012

Vorlage an den EuGH: Welche Arbeitgeberleistungen sind auf den Mindestlohnanspruch anzurechnen?

Der Vierte Senat des BAG hat dem EuGH zwei Rechtsfragen zur Anrechnung von Arbeitgeberleistungen auf den Mindestlohnanspruch aus einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag nach § 5 TVG oder § 1 Abs. 3a AentG 2007 (jetzt § 7 AEntG 2009) zur Entscheidung vorgelegt. Der Senat hält es insbesondere für zweifelhaft, ob vermögenswirksame Leistungen auf den Mindestlohnanspruch anrechenbar sind. Zulagen für Arbeiten, die auch durch den Mindestlohn abgegolten werden, sind dagegen nach Auffassung des Senats anrechenbar.

BAG 18.4.2012, 4 AZR 139/10 u. 4 AZR 168/10
Der Sachverhalt:
Die Arbeitsverhältnisse der beiden Kläger unterlagen im Streitzeitraum vom 1.7.2007 bis zum 30.6.2008 den allgemeinverbindlichen Tarifverträgen des Gebäudereinigerhandwerks und der am 1.4.2008 in Kraft getretenen Verordnung über zwingende Mindestarbeitsbedingungen im Gebäudereinigerhandwerk nach § 1 Abs. 3a AEntG 2007.

Die beklagte Arbeitgeberin gehört zum Deutsche-Bahn-Konzern und vergütete die beiden Kläger nach einem konzerneigenen Tarifvertragssystem. Die im Streitzeitraum danach gezahlten Grundstundenlöhne lagen unterhalb der jeweiligen Mindestlöhne der Gebäudereinigertarifverträge. Die Beklagte zahlte aber neben den Stundenlöhnen verschiedene Zuschläge, Einmalzahlungen, Urlaubsgelder und vermögenswirksame Leistungen, die sie allesamt auf die von den Klägern geltend gemachten Mindestlöhne anrechnete.

Die Kläger vertraten die Auffassung, diese weiteren Leistungen könnten nicht auf die Mindestlöhne angerechnet werden, so dass die Beklagte zur Zahlung der Differenz weiterhin verpflichtet sei. Das BAG wies die eine Klage (Az.: 4 AZR 139/10) ab und rief in dem anderen Verfahren (Az.: 4 AZR 168/10) den EuGH an.

Die Gründe:
Für die Frage, ob und inwieweit der Arbeitgeber den Mindestlohnanspruch des Arbeitnehmers erfüllt hat, ist auf den Zweck der jeweiligen Leistung abzustellen. Der Mindestlohn und die andere - anstatt dessen erbrachte - Leistung sind dann als funktional gleichwertig anzusehen, wenn beide dazu dienen, die nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag vorausgesetzte "Normalleistung" abzugelten. Soll jedoch die andere Leistung über die tarifliche Verpflichtung hinaus geleistete Arbeitsstunden oder unter besonderen Erschwernissen geleistete Arbeit vergüten, so scheidet eine Anrechnung aus.

+++++++
Nach diesen Grundsätzen war die Klage im ersten Fall (Az.: 4 AZR 139/10) abzuweisen. Denn der Kläger hatte von der Beklagten neben dem Tarifstundenlohn für jede Arbeitsstunde eine "Verkehrsmittelzulage" erhalten, unter deren Einschluss der Kläger mehr als den Mindestlohn erhalten hatte. Diese Zulage ist auf den geschuldeten Mindestlohn anzurechnen, weil der Mindestlohn ausweislich des Geltungsbereichs der Gebäudereinigertarifverträge, der eine solche Zulage nicht vorsieht, auch für die Verkehrsmittelreinigung gilt.

+++++++
Im zweiten Fall (Az.: 4 AZR 168/10) kann dagegen noch nicht abschließend entschieden werden, ob dem Kläger weitere Vergütungsansprüche zustehen. Der Kläger hatte keine Verkehrsmittelzulage erhalten, sondern lediglich vermögenswirksame Leistungen. Es ist fraglich, ob diese als Erfüllung des Mindestlohns anzusehen sind. Dagegen spricht, dass sie mit dem Grundstundenlohn der Gebäudereiniger-Lohntarifverträge funktional nicht gleichwertig sind, sondern unabhängig von der Art und Entlohnung der zu leistenden Arbeit der Vermögensbildung des Arbeitnehmers dienen.

Da § 1 Abs. 3a AEntG 2007 (jetzt § 7 AEntG 2009) auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbar ist und die Vorschrift bei innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Sachverhalten in gleicher Weise auszulegen ist, war das Verfahren auszusetzen und waren dem EuGH folgende Fragen zur Entscheidung vorzulegen:

1. Ist der Begriff der "Mindestlohnsätze" in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 96/71/EG dahin auszulegen, dass er die Gegenleistung des Arbeitgebers für diejenige Arbeitsleistung des Arbeitnehmers bezeichnet, die (...) allein und vollständig mit dem tariflichen Mindestlohn abgegolten werden soll ("Normalleistung"), und deshalb nur Arbeitgeberleistungen auf die Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohnsatzes angerechnet werden können, die diese Normalleistung entgelten und spätestens zu dem Fälligkeitstermin für den jeweiligen Lohnzahlungszeitraum dem Arbeitnehmer zur Verfügung stehen müssen?

2. Ist der Begriff "Mindestlohnsätze" in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 96/71/EG dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen (...) entgegensteht, nach denen Leistungen eines Arbeitgebers (...) nicht auf die Erfüllung des Mindestlohnanspruchs anzurechnen sind, wenn der Arbeitgeber diese Leistungen aufgrund einer tarifvertraglichen Verpflichtung erbringt, die (...) dazu bestimmt ist, der Bildung von Vermögen in Arbeitnehmerhand zu dienen (...) ("vermögenswirksame Leistungen")?

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung wird demnächst auf den Webseiten des BAG veröffentlicht.
  • Für die Pressemitteilung des BAG klicken Sie bitte hier.
BAG PM Nr. 30 vom 18.4.2012
Zurück