19.04.2021

Zur Frage der Anerkennung der Abstammung eines Kindes eines gleichgeschlechtlichen Ehepaars in der EU

Bei der Frage der Anerkennung der Abstammung eines Kindes eines gleichgeschlechtlichen Ehepaars in der EU muss nach Ansicht von Generalanwältin Kokott ein Ausgleich zwischen der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und dem Recht auf Freizügigkeit des Kindes und seiner Eltern gefunden werden. Konkret bedeutet dies, dass ein Mitgliedstaat die Abstammung des Kindes für die Zwecke der Ausübung der Rechte anerkennen muss, die das Unionsrecht den Unionsbürgern verleiht. Er kann sich jedoch auf seine nationale Identität und sein traditionelles Familienbild berufen, um die Anerkennung dieser Abstammung zum Zweck der Ausstellung einer Geburtsurkunde nach seinem nationalen Recht zu verweigern.

EuGH, C-490/20: Schlussanträge des Generalanwalts vom 15.4.2021
Der Sachverhalt:
Der Rechtsstreit betrifft zwei verheiratete Frauen, von denen die eine, V.M.A., bulgarische Staatsangehörige ist und die andere die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs besitzt. Sie haben in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat Spanien ein Kind bekommen. In der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde werden beide Frauen als Mütter des Kindes bezeichnet.

V.M.A. beantragte daraufhin bei der zuständigen bulgarischen Behörde die Ausstellung einer Geburtsurkunde für ihre Tochter - ein Dokument, das für die Ausstellung eines bulgarischen Ausweises notwendig ist - wobei sie beide Frauen als Eltern angab. Die Gemeinde Sofia (Bulgarien) verlangte von ihr jedoch die Angabe, welche der beiden Ehefrauen die leibliche Mutter sei, und wies darauf hin, dass die bulgarische Mustergeburtsurkunde nur ein Feld für die "Mutter" und ein weiteres für den "Vater" vorsehe, und dass jedes dieser Felder nur einen Namen enthalten könne. Da V.M.A. diese Information nicht preisgab, lehnte die Behörde ihren Antrag ab.

Die Ablehnung begründete die Gemeinde Sofia damit, dass keine Angaben bzgl. der leiblichen Mutter vorlägen und dass die Eintragung von zwei Eltern weiblichen Geschlechts in einer Geburtsurkunde gegen die öffentliche Ordnung verstoße, da Bulgarien keine Ehen zwischen Personen gleichen Geschlechts erlaube. Gegen diese Entscheidung erhob V.M.A. Klage beim Verwaltungsgericht der Stadt Sofia.

Dieses Gericht möchte nun vom EuGH wissen, ob die Weigerung der nationalen Behörden, ein bulgarisches Kind einzutragen, dessen Geburt durch eine Geburtsurkunde bescheinigt wird, die ein anderer Mitgliedstaat ausgestellt hat und in der zwei Mütter eingetragen sind, gegen das Unionsrecht verstößt.

Die Gründe:
Es kann nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass das Kind die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt. Dies wurde von der bulgarischen Regierung bestritten, da die bulgarische Staatsangehörigkeit zwar kraft Gesetzes von jeder Person erworben wird, von der mindestens ein Elternteil über die Staatsangehörigkeit Bulgariens verfügt, im vorliegenden Fall die Identität der leiblichen Mutter aber nicht bekannt sei. Die Situation liegt aber selbst dann, wenn das Kind nicht die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt und somit kein Unionsbürger ist, nicht außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts. In diesem Fall stellt sich nämlich weiterhin die Frage, ob eine Unionsbürgerin (hier: V.M.A.), die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats mit ihrer Ehefrau Mutter eines Kindes geworden ist, von ihrem Herkunftsmitgliedstaat verlangen kann, dass er diese Situation anerkennt und eine Geburtsurkunde ausstellt, in der beide Frauen als Eltern des Kindes angegeben werden.

Die Mitgliedstaaten müssen ihre Kompetenzen im Bereich des Personenstands und der Abstammung einer Person im Einklang mit dem Unionsrecht ausüben. Das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union umfasst das Recht, ein normales Familienleben sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch im Herkunftsmitgliedstaat eines Unionsbürgers zu führen. Im vorliegenden Fall haben V.M.A. und ihre Ehefrau nach spanischem Recht wirksam den Status der Eltern des Kindes erworben und ein tatsächliches Familienleben mit ihrer Tochter in Spanien geführt. Die fehlende Anerkennung dieses Verwandtschaftsverhältnisses würde ernsthafte Hindernisse für das Familienleben in Bulgarien bedeuten, die V.M.A. letztlich davon abhalten könnten, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Die gleichen Erwägungen gelten für die Situation des Kindes, sofern es Bulgarin ist und somit den Unionsbürgerstatus genießt. Außerdem ist die Ausstellung einer Geburtsurkunde nach bulgarischem Recht Voraussetzung für die Ausstellung eines bulgarischen Ausweises: Dies abzulehnen würde daher die praktische Ausübung des Rechts des Kindes auf Freizügigkeit erheblich erschweren. Die Weigerung der bulgarischen Behörden, die beantragte Geburtsurkunde auszustellen, stellt daher einen Eingriff in die Rechte dar, die das Unionsrecht V.M.A. und, soweit es die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, ihrem Kind verleiht.

Aus Sicht Bulgariens besteht hier ein Verstoß gegen die nationale Identität. Dieser liege darin, dass die beantragte Geburtsurkunde von dem in der bulgarischen Verfassung verankerten "traditionellen" Familienbild abweiche. Danach könne es zwingend nur eine Mutter (und einen Vater) für ein Kind geben. Insoweit bleibt festzuhalten, dass das Familienrecht Ausdruck des politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses eines Staates ist. Die Definition dessen, was als Verwandtschaftsverhältnis im Sinne des innerstaatlichen Familienrechts anzusehen ist, kann dabei als wesentliche Ausprägung dieser nationalen Identität angesehen werden. Daher ist eine Rücknahme der Prüfungsdichte durch den EuGH angezeigt, damit Zuständigkeitsbereiche erhalten bleiben, in denen die materielle Regelung von Sachverhalten allein den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Soweit dieser Kernbereich der nationalen Identität in Rede steht, kann die Berufung auf die nationale Identität daher keiner Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen werden.

Die Verpflichtung zur Anerkennung der in Spanien begründeten Verwandtschaftsverhältnisse allein für die Zwecke der Anwendung des sekundären Unionsrechts über die Freizügigkeit der Unionsbürger ändert jedoch weder die Institute der Abstammung oder der Ehe im bulgarischen Familienrecht noch verpflichtet sie zur Einführung neuer familienrechtlicher Institute. Folglich bedroht eine solche Verpflichtung auch keine wesentliche Ausprägung der nationalen Identität, beseitigt aber gleichzeitig einen großen Teil der Hindernisse für die Freizügigkeit, wie beispielsweise die Ungewissheit in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der britischen Mutter des Kindes oder deren Möglichkeit, ungehindert mit diesem zu reisen. Angesichts der begrenzten Auswirkungen dieser Verpflichtung auf die bulgarische Rechtsordnung gehe die Weigerung, die Abstammung des Kindes von V.M.A. und ihrer Ehefrau für diese Zwecke anzuerkennen, über das hinaus, was zur Wahrung der von Bulgarien geltend gemachten Ziele erforderlich ist.

Bulgarien kann daher die Anerkennung der Abstammung des Kindes für die Zwecke der Anwendung des sekundären Unionsrechts über die Freizügigkeit der Unionsbürger nicht mit der Begründung verweigern, dass das bulgarische Recht weder die Institution der gleichgeschlechtlichen Ehe noch die Mit-Mutterschaft der Ehefrau der leiblichen Mutter eines Kindes vorsieht. Falls das Kind die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, bedeutet dies insbesondere, dass Bulgarien ihm ein Ausweisdokument oder ein Reisedokument ausstellen muss, in dem V.M.A. und ihre Ehefrau als Eltern angegeben werden, um es dem Kind zu ermöglichen, mit jedem seiner Elternteile allein zu reisen. Was dagegen die Ausstellung einer Geburtsurkunde angeht, die die Abstammung dieses Kindes im Sinne des innerstaatlichen Familienrechts festlegt, kann Bulgarien sich auf seine nationale Identität berufen, um die Anerkennung der Abstammung des Kindes, wie sie in der spanischen Geburtsurkunde festgestellt worden ist, zu verweigern.

EuGH PM Nr. 62 vom 16.4.2021
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