11.03.2019

Rechtsanwalt darf sich auf Angaben eines Mandanten über den Zeitpunkt des Zugangs eines Kündigungsschreibens nicht ungeprüft verlassen

Ein Rechtsanwalt darf sich nicht ohne weitere Nachfragen auf Angaben seines Mandanten über den Zeitpunkt des Zugangs eines datierten und mit der Aufschrift "per Boten" versehenen Kündigungsschreibens verlassen. Legt der Anwalt die Angaben des Mandanten seinem weiteren Vorgehen ungeprüft zugrunde und versäumt er hierdurch eine Klagefrist, handelte er pflichtwidrig.

BGH v. 14.2.2019 - IX ZR 181/17
Der Sachverhalt:

Die Klägerin nimmt den Beklagten unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Anwaltshaftung auf Schadensersatz in Anspruch. Der Arbeitgeber der Klägerin erklärte mit Schreiben vom 22.12.2011 die außerordentliche Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses. Das Kündigungsschreiben wurde durch einen Boten am selben Tag um 10:52 Uhr in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen; es trug die Aufschrift "per Boten". Anfang Januar 2012 suchte der Ehemann der Klägerin den Beklagten auf, legte ihm das Kündigungsschreiben vom 22.12.2011 mit der Erklärung vor, es sei der Klägerin am 23.12.2011 zugestellt worden, und beauftragte ihn namens seiner Ehefrau, eine Kündigungsschutzklage zu erheben.

 

Nachdem der Beklagte eine Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung eingeholt hatte, reichte er am 13.1.2012 Klage beim ArbG ein. Die Klage wurde, nachdem der Beklagte einen auf eine Abfindungszahlung gerichteten Vergleich widerrufen hatte, mit der Begründung abgewiesen, die nach § 13 Abs. 1 Satz 2, § 4 Satz 1 KSchG bestehende Klagefrist von drei Wochen sei ausgehend von einem Zugang des Kündigungsschreibens am 22.12.2011 bereits am 12.1.2012 abgelaufen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg.

 

Die Klägerin nahm den Beklagten zunächst auf Erstattung des Vergleichsbetrags und der Kosten des Berufungsverfahrens mit dem Vorwurf in Anspruch, er habe den Vergleich pflichtwidrig widerrufen. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen. Die zunächst eingelegte Berufung nahm die Klägerin später zurück. Nunmehr verlangt die Klägerin vom Beklagten wegen der verspäteten Einreichung der Kündigungsschutzklage die Erstattung von Verdienstausfall, den sie für die Zeit vom 1.7.2012 bis zum 31.8.2014 mit insgesamt rd. 26.000 € beziffert.

 

LG und OLG wiesen die auf Erstattung dieses Betrags nebst Zinsen gerichtete Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

 

Die Gründe:

Der Beklagte die ihm obliegenden vertraglichen Pflichten schuldhaft verletzt (§ 675 Abs. 1, § 280 Abs. 1 BGB). Die von der Klägerin gewünschte Kündigungsschutzklage musste nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KSchG innerhalb einer Frist von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung erhoben werden. Der Beklagte durfte die Einreichung der Klage deshalb nur dann bis zum 13.1.2012 aufschieben, wenn gesichert war, dass die Kündigung nicht vor dem 23.12.2011 zugegangen war. Ohne weitere Nachfragen durfte er hiervon selbst dann nicht ausgehen, wenn der Ehemann der Klägerin ihm mitteilte, dass die Kündigung am 23.12.2011 zugestellt worden sei.

 

Angaben des Mandanten über den Zugang einer Kündigung betreffen nicht anders als Angaben über die Zustellung eines Urteils eine sog. Rechtstatsache. Der im Gesetz verwendete Begriff des Zugangs wird rechtlich bestimmt. Der Zugang einer Willenserklärung unter Abwesenden setzt voraus, dass sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Wird ein Brief in den Briefkasten des Empfängers eingeworfen, ist der Zugang bewirkt, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Ein Schreiben gilt deshalb dann als am Tag seines Einwurfs in den Briefkasten als zugegangen, wenn nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme durch den Adressaten noch am gleichen Tag zu erwarten war. Erreicht eine Erklärung den Briefkasten des Empfängers dagegen zu einer Tageszeit, zu der nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme durch den Adressaten nicht mehr erwartet werden kann, ist die Willenserklärung nicht mehr an diesem Tag, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen.

 

Vor diesem Hintergrund durfte der Beklagte die Mitteilung, das Kündigungsschreiben sei am 23.12.2011 zugestellt worden, nicht ohne weiteres seinem Vorgehen zugrunde legen. Das vom Ehemann der Klägerin vorgelegte Kündigungsschreiben datierte vom 22.12.2011 und war mit der Aufschrift "per Boten" versehen. Danach kam in Betracht, dass das Schreiben bereits am 22.12.2011 durch einen Boten zu einer Tageszeit in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen wurde, als mit einer Entnahme noch am selben Tag gerechnet werden konnte. Eine solche Möglichkeit konnte der Beklagte auch nicht aufgrund der Äußerung des Ehemannes der Klägerin ausschließen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Mitteilung des Ehemannes, die Zustellung sei am 23.12.2011 erfolgt, zweifelsfrei dahin zu verstehen gewesen wäre, dass am Tag zuvor der Briefkasten nach dem Zeitpunkt geleert worden sei, zu dem noch mit einer Entnahme gerechnet werden konnte, und dabei das Kündigungsschreiben nicht vorgefunden worden sei.

 

Ein solches Verständnis der Mitteilung würde voraussetzen, dass der Ehemann der Klägerin sich erkennbar der Kriterien bewusst war, die für die Bestimmung des Zeitpunkts des Zugangs maßgeblich sind. Dafür gab es jedoch keine Anhaltspunkte. Der Beklagte war deshalb verpflichtet, sich durch Nachfragen beim Ehemann der Klägerin oder bei der Klägerin selbst Klarheit darüber zu verschaffen, ob das Kündigungsschreiben nicht bereits am 22.12.2011 zugegangen sein konnte. Falls dies nicht sicher ausgeschlossen werden konnte, war er verpflichtet, den sichersten Weg zu wählen und die Kündigungsschutzklage bereits am 12.1.2012 einzureichen. Indem der Beklagte die Angabe des Ehemannes der Klägerin seinem weiteren Vorgehen ungeprüft zugrunde legte, handelte er pflichtwidrig. Dafür, dass der Beklagte die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hätte (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB), spricht nichts.

 

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