07.08.2025

Anlaufhemmung bei der Festsetzungsfrist für Haftungsbescheide

1. Aus der Verweisung in § 191 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) folgt, dass die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch bei der Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern anzuwenden ist, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetzlicher Pflichten (§§ 34, 35 AO) Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben hat.
2. Nach Aufhebung eines vorangegangenen Haftungsbescheids bestehen Einschränkungen für den Neuerlass eines Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 AO beziehungsweise nach den Grundsätzen von Treu und Glauben insoweit nicht, als der aufgehobene und der erneute Haftungsbescheid nicht denselben Sachverhalt betreffen. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Inanspruchnahme auf einer anderen Haftungsnorm beruht.
3. Hat der Bundesfinanzhof die Revision nur wegen eines selbständig anfechtbaren Teils des Urteils des Finanzgerichts zugelassen, ist eine Anschlussrevision hinsichtlich eines anderen Teils unzulässig.

Kurzbesprechung
BFH v. 18.3.2025 - VII R 20/23

AO § 33 Abs 1, AO § 34, AO § 35, AO § 69, AO § 71, AO § 130 Abs 2, AO § 170 Abs 2 S 1 Nr 1, AO § 191 Abs 1 S 1 Alt 1, AO § 191 Abs 3 S 1
FGO § 116 Abs 5 S 3, FGO § 120, FGO § 155 S 1
ZPO § 554 Abs 1 S 1


1. Verjährung

Gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner). Im Streitfall fiel der Steuerpflichtige aufgrund einer begangenen Steuerhinterziehung unter § 71 AO.

Im Streitfall war für die streitige Haftung für Umsatzsteuer 2006 keine Festsetzungsverjährung eingetreten.

Gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO sind die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf den Erlass von Haftungsbescheiden entsprechend anzuwenden. Die Festsetzungsfrist beträgt gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO in den Fällen des § 71 AO zehn Jahre. Sie beginnt nach § 191 Abs. 3 Satz 3 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Ist die Steuer, für die gehaftet wird, noch nicht festgesetzt worden, so endet die Festsetzungsfrist gemäß § 191 Abs. 3 Satz 4 AO für den Haftungsbescheid nicht vor Ablauf der für die Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist; andernfalls gilt § 171 Abs. 10 AO sinngemäß.

Gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist, es sei denn, dass die Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 AO später beginnt.

Die Festsetzungsfrist für eine Haftung eines Entrichtungsschuldners beginnt, wenn der haftungsbegründende Pflichtenverstoß darin begründet ist, dass eine Steueranmeldung (Entrichtungssteuer) nicht abgegeben wurde, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steueranmeldung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).

Bislang nicht vollständig geklärt ist die Frage, ob die von der Rechtsprechung zur Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für die Haftung von Entrichtungsschuldnern entwickelte Rechtsprechung auch allgemein für Haftungsschuldner im Sinne des § 191 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO gilt, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetzlicher Pflichten (§§ 34, 35 AO) Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben hat.

Der BFH entschied, dass die Rechtsprechung zur Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für die Haftung von Entrichtungsschuldnern für Haftungsschuldner entsprechend anwendbar ist. Die Anlaufhemmung gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO ist trotz der Bestimmung des § 191 Abs. 3 Satz 3 AO zu beachten, wonach die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Denn die Haftung des GmbH-Geschäftsführers knüpft an die Nichtabgabe der Steuererklärung für die GmbH an. Die betreffende Pflicht begründet § 34 AO, und zwar im Rahmen eines eigenen Pflichtverhältnisses zur Finanzverwaltung; die gesetzlichen Vertreter und Geschäftsführer sind Steuerpflichtige im Sinne des § 33 Abs. 1 AO kraft eigener steuerrechtlicher Pflichten und nicht kraft abgeleiteter Pflichten.

Der BFH hält eine Gleichstellung von Steuerschuldner und Haftungsschuldner im Hinblick auf die Anlaufhemmung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO aufgrund der Wertung des § 33 Abs. 1 AO für sachgerecht.

2. Neuerlass eines Haftungsbescheides

Die Rücknahme eines Haftungsbescheids stellt selbst einen Verwaltungsakt dar, der den Betroffenen gegenüber der vorausgegangenen formellen Rechtslage begünstigt, indem er die belastende Wirkung des ursprünglichen Haftungsbescheids beseitigt; die Rücknahme ist demnach geeignet, einen Vertrauenstatbestand dahingehend zu begründen, nicht als Haftungsschuldner in Anspruch genommen zu werden.

Ein erneuter Haftungsbescheid darf dann nur ergehen, wenn die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO vorliegen. Streng genommen liegt in dem Erlass eines neuen Haftungsbescheids keine Rücknahme eines vorherigen Rücknahmebescheids, da der begünstigende Verwaltungsakt formell bestehen bleibt und der spätere Haftungsbescheid einen eigenständigen, von dem Rücknahmebescheid unabhängigen Verwaltungsakt darstellt. Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 130 Abs. 2 AO, das Vertrauen des Betroffenen auf eine ihm günstige Verwaltungsregelung zu schützen, ist danach die Vorschrift aber jedenfalls dann auf einen neu ergehenden Haftungsbescheid anzuwenden, wenn er eine im Einspruchsverfahren erstrittene günstige Rechtsposition (Rücknahme eines vorangegangenen Haftungsbescheids) der Sache nach wieder beseitigt. Denn Einspruchsentscheidungen und Abhilfebescheide, die nach erneuter Prüfung der Sache im Einspruchsverfahren (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO) ergehen, unterliegen wegen des durch sie begründeten Vertrauens des Steuerpflichtigen einer erhöhten Bestandsgarantie.

Die Aufhebung eines Haftungsbescheids im Einspruchsverfahren mit dem Bemerken, die Aufhebung erfolge "ersatzlos", kann zu einem Vertrauenstatbestand in dem Sinne führen kann, dass die Finanzbehörde keinen neuen Haftungsbescheid als "Ersatz" für den Ursprungsbescheid erlassen werde.

Einschränkungen für den Neuerlass eines Haftungsbescheids nach Aufhebung eines vorangegangenen Haftungsbescheids bestehen nach § 130 Abs. 2 AO beziehungsweise nach den Grundsätzen von Treu und Glauben jedoch insoweit nicht, als der aufgehobene und der erneute Haftungsbescheid nicht denselben Sachverhalt betreffen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Höhe der Haftungsbeträge, sondern auch auf den Inhalt, insbesondere wenn die Inanspruchnahme auf einer anderen Haftungsnorm. Ebenso kann ein Haftungsbetrag in einem ergänzenden Haftungsbescheid erhöht werden, wenn die Erhöhung der Steuerschuld auf neuen Tatsachen beruht.

Im entschiedenen Streitfall stand dem Erlass des angefochtenen Haftungsbescheids hinsichtlich der Haftung für Umsatzsteuer 2006 kein Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen entgegen, da die in Rede stehenden Haftungsbescheide nicht denselben Sachverhalt betrafen und zudem der zweite Haftungsbescheid auf einer anderen Rechtsnorm beruhte (erster Haftungsbescheid: § 69 AO, zweiter Haftungsbescheid: § 71 AO).

3. Unzulässige Anschlussrevision

Die gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 554 Abs. 1 Satz 1 ZPO im Finanzgerichtsprozess statthafte Anschlussrevision ist kein Rechtsmittel im eigentlichen Sinne, sondern ein prozessualer Antrag innerhalb des vom Gegner eingelegten Rechtsmittels, der Hauptrevision. Eine Anschlussrevision ist gegenüber der Hauptrevision akzessorisch. Sie ist nur zulässig, soweit sie denselben Streitgegenstand wie die Revision betrifft.

Deshalb kann, wenn Gegenstand des angefochtenen Urteils mehrere Verwaltungsakte sind und die Hauptrevision sich nur gegen einen dieser Verwaltungsakte richtet, das angefochtene Urteil hinsichtlich der anderen Verwaltungsakte mit einer Anschlussrevision nicht mehr angegriffen werden.

Dasselbe gilt, wenn Anschlussrevision und Hauptrevision unterschiedliche Streitjahre betreffen. Hat ein Beteiligter Revision nur wegen eines Streitjahres eingelegt, kann der andere Beteiligte die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht durch eine Anschlussrevision auf ein anderes Streitjahr ausdehnen. Nichts anderes gilt für Haftungsbescheide, die mehrere Streitjahre umfassen.

Dieselben Grundsätze gelten im Falle einer teilweisen Revisionszulassung durch den BFH im Verfahren wegen der Nichtzulassung der Revision. Ist die Revision nur wegen eines selbständig anfechtbaren Teils des FG-Urteils zugelassen worden, kann die Anschlussrevision zulässigerweise nicht hinsichtlich eines anderen Teils eingelegt werden. Dies folgt aus § 116 Abs. 5 Satz3 FGO. Nach dieser Vorschrift wird das Urteil mit der Ablehnung der Beschwerde durch den BFH rechtskräftig. Ist das FG-Urteil hinsichtlich eines selbständig anfechtbaren Teils hiernach rechtskräftig, kann die Rechtskraftwirkung nicht durch Einlegung einer Anschlussrevision entfallen.
Verlag Dr. Otto Schmidt