17.01.2014

Aufenthaltstitel für Verwandte absteigender Linie eines Unionsbürgers: Kein Nachweis eigener Bemühungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts

Ein Verwandter in absteigender Linie eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt und 21 Jahre oder älter ist, muss - um als Person, der von diesem Unionsbürger Unterhalt gewährt wird, angesehen zu werden - nicht nachweisen, dass er mit allen Mitteln versucht hat, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein Mitgliedstaat darf für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht verlangen, dass der Verwandte in absteigender Linie nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden oder in seinem Herkunftsland Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen.

EuGH 16.1.2014, C-423/12
Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist 1987 geboren und besitzt die philippinische Staatsangehörigkeit. Im Alter von drei Jahren wurde sie in die Obhut ihrer Großmutter mütterlicherseits gegeben, weil ihre Mutter nach Deutschland zog, um dort zu arbeiten. Diese erlangte die deutsche Staatsangehörigkeit. Während ihrer gesamten Kindheit und Jugend wurde die Klägerin von ihrer Großmutter aufgezogen. Zwischen ihrem 17. und ihrem 23. Lebensjahr besuchte sie eine Oberschule und studierte vier Jahre lang, ehe sie nach einer Ausbildung das Diplom zur Hilfskrankenschwester/Pflegeassistentin erhielt. Im Anschluss an ihr Examen half die Klägerin ihrer Schwester bei der Betreuung von deren Kindern.

Die Mutter der Klägerin hielt engen Kontakt zu ihren Familienangehörigen auf den Philippinen, schickte ihnen mtl. Geld für ihren Unterhalt und für ihr Studium und besuchte sie jedes Jahr. Die Klägerin hat noch nie eine Beschäftigung ausgeübt und auch keine Sozialleistungen bei den philippinischen Behörden beantragt. Im Jahr 2009 zog die Mutter der Klägerin nach Schweden zu einem norwegischen Staatsangehörigen, den sie 2011 heiratete. Seit 2009 schickte dieser norwegische Staatsangehörige, der über Mittel aus einer Altersrente verfügt, regelmäßig Geld auf die Philippinen für die Klägerin und andere Familienangehörige.

2011 reiste die Klägerin in den Schengen-Raum ein und beantragte als Familienangehörige ihrer Mutter einen Aufenthaltstitel in Schweden. Sie gab an, dass ihr von der Familie ihrer Mutter Unterhalt gewährt werde. Ihr Antrag wurde abgelehnt; sie habe nicht nachgewiesen, dass das ihr von ihrer Familie überwiesene Geld der Deckung ihrer Grundbedürfnisse (etwa Kost, Unterbringung, Zugang zur Krankheitsfürsorge) gedient habe. Sie habe zudem nicht dargetan, wie die Systeme der Sozialversicherung und der sozialen Sicherheit in ihrem Heimatland Personen in ihrer Lage versorgen könnten. Dagegen habe sie nachgewiesen, dass sie in ihrem Herkunftsland ein Diplom gemacht und Praktika absolviert habe. Außerdem sei ihr während ihrer Kindheit und Jugend von ihrer Großmutter mütterlicherseits Unterhalt gewährt worden.

Das Berufungsgericht für Einwanderungsfragen in Stockholm, bei dem die Rechtssache nun anhängig ist, möchte vom EuGH wissen, ob ein Mitgliedstaat verlangen darf, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist - um als Person, der Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des "Familienangehörigen" erfasst angesehen zu werden - nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob sich die Tatsache, dass ein Familienangehöriger gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und dass er beabsichtigt, im Aufnahmemitgliedstaat einer Arbeit nachzugehen, auf die Auslegung des Erfordernisses, dass ihm "Unterhalt gewährt wird", auswirkt.

Die Gründe:
Ein Mitgliedstaat darf nach dem Unionsrecht nicht verlangen, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist - um als Person, der Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des "Familienangehörigen" eines Unionsbürgers erfasst angesehen zu werden - nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses muss nachgewiesen werden, damit ein solcher Verwandter eines Unionsbürgers als Person angesehen werden kann, der von dem Unionsbürger "Unterhalt gewährt wird". Der Aufnahmemitgliedstaat muss prüfen, ob der fragliche Verwandte nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt. Der Unterhaltsbedarf muss im Herkunfts- oder Heimatland eines solchen Verwandten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem er beantragt, dem Unionsbürger nachzuziehen. Dagegen ist es nicht erforderlich, die Gründe für diese Abhängigkeit und damit für die Inanspruchnahme dieser Unterstützung zu ermitteln.

Die Tatsache, dass ein Unionsbürger dem Verwandten in absteigender Linie regelmäßig während eines beachtlichen Zeitraums einen Geldbetrag zahlt, den dieser zur Deckung seiner Grundbedürfnisse im Herkunftsland benötigt, ist geeignet, ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis nachzuweisen. Es kann von dem Verwandten nicht verlangt werden, dass er darüber hinaus nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Durch das Erfordernis eines solchen zusätzlichen Nachweises, könnte die Möglichkeit des Verwandten, von seinem Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat Gebrauch zu machen, übermäßig erschwert werden.

Im Übrigen ist festzuhalten, dass das Abhängigkeitsverhältnis zu dem Zeitpunkt, zu dem der betreffende Familienangehörige den Nachzug zu dem Unionsbürger beantragt, der ihm Unterhalt gewährt, im Herkunftsland dieses Familienangehörigen bestehen muss. Die Tatsache, dass ein Familienangehöriger aufgrund persönlicher Umstände wie Alter, Ausbildung und Gesundheit gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und dass er darüber hinaus beabsichtigt, im Aufnahmemitgliedstaat einer Arbeit nachzugehen, wirkt sich nicht auf die Auslegung des Erfordernisses, dass ihm "Unterhalt gewährt wird", aus.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 5 vom 16.1.2014
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