31.07.2025

Entstrickung durch Überführung von Wirtschaftsgütern in ausländische Betriebsstätte - verfassungsrechtliches Vertrauensschutzgebot bei rückwirkenden Gesetzen

1. Wird ein bisher einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnendes Wirtschaftsgut in eine ausländische Betriebsstätte überführt, löst dies gemäß § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 (JStG 2010) die Rechtsfolgen der Entnahmefiktion des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG aus.
2. Die durch § 52 Abs. 8b Satz 2 Variante 1 i.V.m. Satz 3 EStG i.d.F. des JStG 2010 angeordnete ("echte") Rückwirkung des § 4 Abs. 1 Satz 4 (i.V.m. Satz 3) EStG i.d.F. des JStG 2010 für vor dem 01.01.2006 endende Wirtschaftsjahre verstößt für den Fall der Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte, deren Einkünfte nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland von der Besteuerung freigestellt sind, nicht gegen das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzgebot.
3. Die nach Maßgabe der Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze der Finanzverwaltung (BMF-Schreiben v. 24.12.1999, BStBl I 1999, 1076) praktizierte Entstrickungsbesteuerung durch Auflösung der zum Überführungszeitpunkt in dem Wirtschaftsgut ruhenden stillen Reserven bei gleichzeitiger Neutralisierung durch Bildung eines Merkpostens, der in gleichen Jahresraten über einen Zeitraum von zehn Jahren gewinnerhöhend aufgelöst wird, verstößt nicht gegen die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit.

Kurzbesprechung
BFH v. 26.3.2025 - I R 5/24 (I R 99/15)

EStG § 4 Abs 1 S 2, EStG § 4 Abs 1 S 3, EStG § 4 Abs 1 S 4, EStG § 52 Abs 8b S 2, EStG § 52 Abs 8b S 3, EStG § 6 Abs 5 S 3 Nr 4 
GG Art 20 Abs 3, GG Art 100 Abs 1 
EG Art 43 
AEUV Art 49 
DBA NLD Art 24 Abs 2 
KStG § 12 Abs 1, KStG § 34 Abs 8 S 3 
OECDMustAbk Art 24 Abs 3 S 1 
OECD-MA Art 24 Abs 3 S 1
 

Im Streitfall ging es um die Frage, ob die Überführung von Rechten am geistigen Eigentum aus einer inländischen Gesellschaft in eine niederländische Betriebsstätte eine Entnahme darstellt, die zur Aufdeckung der stillen Reserven bei der inländischen Gesellschaft geführt hat.

Der BFH entschied, dass 
  • die Überführung der Rechte am geistigen Eigentum in die niederländische Betriebsstätte nach § 4 Abs. 1 EStG bei der inländischen Gesellschaft zu einer gewinnerhöhenden Entnahme geführt hat,
  • eine Aussetzung des Verfahrens gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nicht in Betracht kam, weil der BFH nicht von der Verfassungswidrigkeit der in § 52 Abs. 8b EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 (JStG 2010) v. 08.12.2010 (BGBl I 2010, 1768) angeordneten Anwendung des § 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG für Wirtschaftsjahre, die vor dem 01.01.2006 enden, überzeugt ist,
  • § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 in der Konstellation des Streitfalls weder gegen die unionsrechtlich garantierte Niederlassungsfreiheit noch gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs.  DBA-Niederlande 1959/2004 verstößt. 

Er verwies den Streitfall jedoch an das FG zurück, weil es rechtsfehlerhaft davon ausgegangen war, dass die Entnahme mit dem Fremdvergleichswert anzusetzen sei.

1. Anwendung von § 4 Abs. 1 EStG
Die Überführung der Rechte am geistigen Eigentum an den gewerblichen Schutzrechten in die in den Niederlanden belegene Betriebsstätte der inländischen Gesellschaft erfüllt den Tatbestand des § 4 Abs. 1 Satz 4 (i.V.m. Satz 3) EStG i.d.F. des JStG 2010 und ist daher einer nach § 4 Abs. 1 Satz 2 EStG gewinnerhöhenden Entnahme zu betriebsfremden Zwecken gleichzustellen. 

Mit der Einfügung des § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG durch das JStG 2010 hat der Gesetzgeber jedoch unmissverständlich normiert, dass der Fall der Überführung eines bisher einer inländischen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen zuzuordnenden Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte   und zwar unabhängig von einer etwaigen abkommensrechtlichen Freistellung der ausländischen Betriebsstättengewinne    ein Anwendungsfall des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG i.d.F. des SEStEG sein soll. Angesichts dieses anhand des Normwortlauts klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist im Falle der Tatbestandsmäßigkeit nach § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 eine nochmalige Prüfung der Voraussetzungen des Satzes 3 nicht erforderlich.

2. Rückwirkende Anordnung
Für den Streitfall führte § 52 Abs. 8b Satz 2 Variante 1 i.V.m. Satz 3 EStG i.d.F. des JStG 2010 zur rückwirkenden Geltung des § 4 Abs. 1 Satz 4 (i.V.m. Satz 3) EStG i.d.F. des JStG 2010, weil die Einkünfte der niederländischen Betriebsstätte der inländischen Gesellschaft im Streitjahr gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959/2004 von der Besteuerung durch Deutschland freigestellt waren. 

Die durch § 52 Abs. 8b Satz 2 und 3 EStG bewirkte konstitutive Rückwirkung des § 4 Abs. 1 Satz 4 (i.V.m. Satz 3) EStG (jeweils i.d.F. des JStG 2010) in die Zeit vor 2006 ist in der Konstellation des Streitfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Denn es ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen gegeben, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung rechnen mussten. Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall vor, da es um die "Korrektur" einer späteren Rechtsprechungsänderung ging, auf die die Betroffenen im fraglichen Zeitraum noch nicht haben vertrauen können.

3. Niederlassungsfreiheit
Der BFH hat auch einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit verneint und verweist hierzu auf das Urteil des EuGH Verder LabTec vom 21.05.2015 - C-657/13, EU:C:2015:331.

Verlag Dr. Otto Schmidt