20.09.2012

Finanzgerichtliches Verböserungsverbot begründet kein allgemeines "Änderungsverbot"

Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot begründet im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO kein allgemeines "Änderungsverbot". Es besagt lediglich, dass eine Schlechterstellung des Klägers bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung durch das FG verboten ist.

BFH 13.6.2012, VI R 92/10
Der Sachverhalt:
Die Klägerin erzielte als Prokuristin einer GmbH Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Anlässlich einer im Jahr 2005 durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung wurde festgestellt, dass der Sozialversicherungsträger auf eine pflichtversicherungsfreie Beschäftigung der Klägerin erkannt hatte und daraufhin die von der GmbH für die Klägerin seit 1997 abgeführten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung im Jahr 2002 in freiwillige Beiträge umgewandelt sowie die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile zur Arbeitslosenversicherung an den Arbeitgeber zurückgezahlt wurden.

Nach Auffassung des Prüfers führte dies zum rückwirkenden Wegfall der bis dahin für die Klägerin angenommenen Sozialversicherungspflicht. Die umgewandelten Arbeitgeberanteile seien - wie die ab Juni 2002 gezahlten Zuschüsse des Arbeitgebers zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung der Klägerin - deshalb steuerbarer Arbeitslohn. Dieser sei im jeweiligen Lohnzahlungszeitraum zugeflossen und der Bruttoarbeitslohn der Klägerin entsprechend zu erhöhen. Die Erstattung der Arbeitnehmeranteile zur Arbeitslosenversicherung sei hingegen als Rückzahlung von Arbeitslohn zu werten, da der Arbeitgeber diese nicht an die Klägerin weitergegeben habe. Dieser Auffassung folgte auch das Finanzamt und erließ geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1997 bis 1999 bzw. 2000 bis 2002.

Das FG hob die die geänderten Festsetzungen für die Jahre 1997 bis 2001 auf. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Anschließend änderte das Finanzamt den - nunmehr streitgegenständlichen - Einkommensteuerbescheid für 2002 erneut. Es erhöhte die Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit - unter Anrechnung der Rückzahlung aus der Arbeitslosenversicherung - um die im Jahr 2002 in freiwillige Beiträge umgewandelten Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag der Jahre 1997 bis 2001. Zugleich wurde dieser Betrag bei der Einkommensteuerfestsetzung 2002 im Rahmen der abziehbaren Vorsorgeaufwendungen berücksichtigt.

Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Auf die Revision des Finanzamtes hob der BFH das Urteil auf und wies die Klage ab.

Die Gründe:
Das Finanzamt durfte den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2002 nach § 174 Abs. 4 AO zu Lasten der Klägerin ändern.

Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot begründet im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO kein allgemeines "Änderungsverbot". Es besagt lediglich, dass eine Schlechterstellung des Klägers bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung durch das FG verboten ist. Einer erneuten Änderung eines zuvor bereits durch Gerichtsentscheidung geänderten Steuerbescheids stehen Sinn und Zweck des § 174 Abs. 4 AO sowie Rechtskraftgründe jedoch entgegen, wenn es sich um denselben Streitgegenstand handelt.

Das FG hatte mit klageabweisendem Ersturteil entschieden, die Sozialversicherungsbeiträge seien erst im Jahr 2002 als Lohn zu erfassen und hatte daher die Steuerfestsetzungen für 1997 bis 2001 aufgehoben. Somit hat das Finanzamt mit der nachträglichen Änderung des hier streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheids 2002 die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen, indem es die Sozialversicherungsbeiträge nunmehr in diesem Bescheid erfasste. Es hat mit dieser Änderung keinen gerichtlich modifizierten Steuerbescheid nochmals geändert. Denn durch das Ersturteil hat der Einkommensteuerbescheid 2002 keine Änderung erfahren. Es hat vielmehr in dem Einkommensteueränderungsbescheid 2002 und damit in einem "anderen" Bescheid die zutreffenden steuerlichen Folgen aus dem die Einkommensteuerfestsetzungen 1997 bis 2001 ändernden FG-Urteil gezogen.

Die Vorinstanz hatte verkannt, dass allenfalls die Rechtskraft eines Urteils die Änderung eines Steuerbescheids hindern kann, wenn das FG unter Hinweis auf das finanzgerichtliche Verböserungsverbot davon absieht, den ursprünglich angefochtenen Bescheid zu Lasten des Klägers zu ändern. Zwar erstreckte sich die Rechtskraft des klageabweisenden Ersturteils auch hier auf den Einkommensteuerbescheid 2002. Allerdings ist die materielle Rechtskraftwirkung des § 110 Abs. 1 FGO nach ständiger BFH-Rechtsprechung auf den Teil des Streitgegenstands begrenzt, über den jeweils entschieden wurde, und das war hier eben nicht der Einkommensteuerbescheid 2002.

Linkhinweis:

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