26.06.2025

Günstigerprüfung gemäß § 10a Abs. 2 EStG; Reihenfolge der Rechenschritte von der tariflichen zur festzusetzenden Einkommensteuer

1. Bei der Günstigerprüfung nach § 10a Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist die Differenz der tariflichen Einkommensteuer, die sich einerseits ohne und andererseits mit Abzug der Beiträge zur zusätzlichen Altersvorsorge als Sonderausgaben ergäbe, mit dem Zulageanspruch zu vergleichen.
2. Ist die Differenz zwischen den genannten tariflichen Einkommensteuerbeträgen höher als der Zulageanspruch, werden die ‑‑auch den Zulageanspruch umfassenden‑‑ Altersvorsorgebeiträge als Sonderausgaben abgezogen. Im Gegenzug wird der Zulageanspruch zur Vermeidung einer doppelten Begünstigung bei der Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer hinzugerechnet.
3. Auf dem Weg zur Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer ist die tarifliche Einkommensteuer zunächst um Steuerermäßigungen nach § 35a EStG zu mindern (§ 2 Abs. 6 Satz 1 EStG). Erst danach ist der Zulageanspruch hinzuzurechnen (§ 2 Abs. 6 Satz 2 EStG).
4. Eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs des § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG ist dann geboten, wenn zwar der Sonderausgabenabzug auf der Ebene der tariflichen Einkommensteuer günstiger als der Zulageanspruch ist, die festzusetzende Einkommensteuer aber dennoch höher ausfiele als ohne den Sonderausgabenabzug.

Kurzbesprechung
BFH v. 9.4.2025 - X R 11/21

EStG § 2 Abs 4, EStG § 2 Abs 5, EStG § 2 Abs 6, EStG § 10a Abs 2, EStG § 31 S 4, EStG § 32 Abs 6, EStG § 35a, EStG § 84
FGO § 126 Abs 3 S 1 Nr 1, FGO § 90a Abs 1, FGO § 96 Abs 1 S 2, FGO § 121 S 1, FGO § 135 Abs 1


Bei der Günstigerprüfung nach § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG ist die Differenz der tariflichen Einkommensteuer, die sich einerseits ohne und andererseits unter Abzug der Beiträge zur zusätzlichen Altersvorsorge als Sonderausgaben ergäbe, mit dem Zulageanspruch zu vergleichen. Denn der Vorschrift des § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG ist das Erfordernis eines Vergleichs zwischen einer sich aufgrund des "Sonderausgabenabzugs" ergebenden Größe einerseits und dem Zulageanspruch andererseits zu entnehmen.

Der "Anspruch auf die Zulage nach Abschnitt XI" knüpft erkennbar an die §§ 79 ff. EStG an. Für den Anspruch auf die in den §§ 83 ff. EStG geregelte Altersvorsorgezulage (Grundzulage sowie gegebenenfalls Kinderzulage) ergibt sich ein konkreter Wert, der für die Steuerpflichtige im Streitjahr 154 € (Anspruch auf Grundzulage) betrug.

Demgegenüber werden, was den "Sonderausgabenabzug" anbelangt, im Gesetz weder die Vergleichsgröße noch die zu ihrer Ermittlung durchzuführenden Schritte näher benannt. Nach Auffassung des BFH ist für die Prüfung, ob der Sonderausgabenabzug nach § 10a Abs. 1 EStG "günstiger" für den Steuerpflichtigen ist, der Unterschiedsbetrag zwischen der tariflichen Einkommensteuer mit und ohne Sonderausgabenabzug der Beiträge zur zusätzlichen Altersvorsorge maßgebend. Erst diese Differenz stellt die Größe dar, die mit dem Zulageanspruch zu vergleichen ist. Im Streitfall hatte das FG im Rahmen der Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer rechtsfehlerhaft nicht die Minderung um die Steuerermäßigungen nach § 35a EStG vor der Hinzurechnung der Altersvorsorgezulage vorgenommen.

Gemäß § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG ist die tarifliche Einkommensteuer, vermindert um den Unterschiedsbetrag nach § 32c Abs. 1 Satz 2, die anzurechnenden ausländischen Steuern und die Steuerermäßigungen, vermehrt um die Steuer nach § 32d Abs. 3 und 4, die Steuer nach § 34c Abs. 5 und den Zuschlag nach § 3 Abs. 4 Satz 2 des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes, die festzusetzende Einkommensteuer. Für die Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer ist der Anspruch auf Zulage nach Abschn. XI der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen, wenn der Gesamtbetrag der Einkünfte in den Fällen des § 10a Abs  2 um Sonderausgaben nach § 10a Abs. 1 gemindert wurde (vgl. § 2 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 1 EStG).

Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG werden ‑‑ ausgehend von der tariflichen Einkommensteuer ‑‑ zunächst bestimmte Minderungen ("vermindert") und erst danach bestimmte Mehrungen ("vermehrt") vorgenommen. Diese Unterteilung in zwei Berechnungsschritte bildet die grundlegende Systematik des Gesetzes. Der Gesetzgeber hat diese Hinzurechnung in § 2 Abs. 6 Satz 3 EStG verortet. Dementsprechend bildet die Hinzurechnung des Kindergelds "den letzten Schritt" auf dem Weg zur Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer.

Dem sich aus Wortlaut und Systematik ergebenden Verständnis stehen die historische und teleologische Auslegung der in Rede stehenden § 10a Abs. 2 Satz 1, § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG nicht entgegen. Vielmehr gebieten Sinn und Zweck der in Rede stehenden Vorschriften kein von Wortlaut und Systematik abweichendes Verständnis.

Die Hinzurechnung des Anspruchs auf Altersvorsorgezulage nach § 2 Abs. 6 Satz 2 EStG bildet daher den "vorletzten" Schritt auf dem Weg zur Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer. Ungeachtet des ‑ bei isolierter Prüfung nach § 10a Abs. 2 EStG ‑‑ günstigeren Sonderausgabenabzugs hatte das FA im Streitfall zu Recht das für den Steuerpflichtigen insgesamt niedrigere steuerliche Ergebnis ohne diesen Abzug festgesetzt. Zwar ergab die Günstigerprüfung nach § 10a Abs. 2 Satz 1 EStG, dass die durch den Sonderausgabenabzug bewirkte steuerliche Entlastung vorliegend höher als der Zulageanspruch ist. Die für diesen Fall gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge einer Hinzurechnung des Zulageanspruchs würde aber ‑‑ aufgrund der nach den Umständen nur eingeschränkt möglichen Berücksichtigung der Steuerermäßigungen nach § 35a EStG ‑‑ zu einer höheren festzusetzenden Einkommensteuer führen (154 €) als bei Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer ohne Sonderausgabenabzug, jedoch unter vollständigem Abzug der Steuerermäßigungen (107 €).Das FA hatte daher zu Recht ‑‑ dem Zweck der Günstigerprüfung entsprechend ‑‑ das für den Steuerpflichtigen insgesamt günstigere steuerliche Ergebnis festgesetzt.

Vor dem Hintergrund des vorstehenden Ergebnisses hält der BFH eine entsprechende teleologische Reduktion des § 10a Abs. 2 EStG für geboten. Eine solche ist dahingehend vorzunehmen, dass ein Sonderausgabenabzug der Beiträge zur zusätzlichen Altersvorsorge nicht vorzunehmen ist, wenn die festzusetzende Einkommensteuer ‑‑ nach Hinzurechnung der Zulage ‑‑ im Falle des Sonderausgabenabzugs höher ausfiele als ohne einen solchen Abzug. Denn es wäre sinnwidrig, wenn gerade die uneingeschränkte Anwendung des § 10a Abs. 2 EStG, der nur im Falle eines steuerlichen "günstiger" wirkenden Sonderausgabenabzugs eine Hinzurechnung des Zulageanspruchs ‑‑ zur Vermeidung einer Doppelbegünstigung ‑‑ vorsieht und ansonsten unterbleibt, bei einer Gesamtbetrachtung sogar zu einem steuerlichen Nachteil beim Steuerpflichtigen führen würde. Allein dieses Ergebnis vermeidet auch eine sinnwidrige Anwendung des § 10a Abs. 4 Satz 1 EStG.
Verlag Dr. Otto Schmidt