26.06.2025

Kein Billigkeitserlass von Nachzahlungszinsen zur Einkommensteuer auf Einkünfte eines Erben wegen langjähriger Dauer eines Erbscheinverfahrens

1. Auch ein Grundlagenbescheid, der viele Jahre nach Ende des Veranlagungszeitraums erlassen oder geändert wird, kann zu einer Zinspflicht unter Anwendung der Karenzzeit des § 233a Abs. 2 der Abgabenordnung führen (Festhaltung am Senatsurteil vom 01.06.2016 - X R 66/14, BFH/NV 2016, 1688, Rz 29 f.).
2. Der Umstand, dass der Steuerpflichtige aufgrund der unklaren Erbrechtssituation nicht in der Lage war, die Besteuerungsgrundlagen früher zu ermitteln beziehungsweise zu schätzen und eine Vorauszahlung auf die zu erwartenden Steuern zu leisten, um eine Zinsentstehung zu verhindern oder jedenfalls zu reduzieren, begründet keine sachliche Unbilligkeit.
3. Die Freistellung von der Zahlung der Steuer rechtfertigt im Hinblick auf den hierdurch typisierend anzunehmenden Liquiditäts- und Zinsvorteil hinsichtlich der Steuerschuld die Festsetzung von Nachzahlungszinsen. Auf die fehlende Nutzungsmöglichkeit der Nachlassgegenstände durch den Steuerpflichtigen während des Erbscheinverfahrens kommt es nicht an.

Kurzbesprechung
BFH v. 9.4.2025 - X R 12/21

AO § 3 Abs 4, AO § 37 Abs 1, AO § 155 Abs 2, AO § 162 Abs 5, AO § 175 Abs 1 S 1 Nr 1, AO § 175 Abs 1 S 1 Nr 2, AO § 179 Abs 3, AO § 227, AO § 233a Abs 2, AO § 233a Abs 2a, AO § 238 Abs 1 S 1, AO § 238 Abs 1a
GG Art 3 Abs 1
BGB § 2365


Die Finanzbehörden können nach § 227 AO Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehören nach § 37 Abs. 1 AO auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen, zu denen wiederum nach § 3 Abs. 4 AO auch Zinsen (§§ 233 bis 237 AO) zählen. Dem Erlass von Nachforderungszinsen nach § 233a AO steht nicht entgegen, dass § 233a AO im Gegensatz zu § 234 Abs. 2 AO für Stundungszinsen und § 237 Abs. 4 AO für Aussetzungszinsen keine ausdrückliche Ermächtigung zu Billigkeitsmaßnahmen enthält.

Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen ist dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber eine andere Regelung getroffen hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, können keinen Billigkeitserlass rechtfertigen.

Die Billigkeitsprüfung darf die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes nicht unterlaufen, sich andererseits auch nicht in Überlegungen zur richtigen Rechtsanwendung erschöpfen, da dann ein auf sachliche Billigkeitsgründe gestützter Erlass nach § 227 AO niemals möglich wäre. Diese Grundsätze gelten auch für den Erlass nach § 233a AO festgesetzter Zinsen.

Zweck der Regelungen in § 233a AO ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Sollverzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte steuerliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich bestanden, ist grundsätzlich unbeachtlich. Daher greift die Regelung im Allgemeinen unabhängig davon, warum es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob und inwiefern tatsächlich die Liquiditätsvorteile genutzt wurden.

Im Streitfall war die Entscheidung des FA, die Verzinsung nach den gesetzlichen Wertungen vorzunehmen, nicht unbillig, da der Steuerpflichtige durch die späte Festsetzung der Einkommensteuer die Möglichkeit der Kapitalnutzung und daher einen Liquiditätsvorteil gehabt hatte.

Der Zinslauf ist auch dann nach Maßgabe von § 233a Abs. 2 AO zu berechnen, wenn der Unterschiedsbetrag auf der Anpassung eines Einkommensteuerbescheids an einen Grundlagenbescheid beruht. Nicht maßgebend ist, wann der Grundlagenbescheid ergeht. Der Beginn des Zinslaufs ist nach 233a Abs. 2a AO nur hinausgeschoben, wenn die Änderung einer Steuerfestsetzung auf einem rückwirkenden Ereignis oder einem Verlustabzug beruht. Der Erlass eines Grundlagenbescheids ist aber kein rückwirkendes Ereignis. Auch ein Grundlagenbescheid, der erst viele Jahre nach Ende des Veranlagungszeitraums erlassen oder geändert wird, kann daher zu einer Zinspflicht unter Anwendung der Karenzzeit des § 233a Abs. 2 AO führen.

Eine Billigkeitskorrektur dieses Ergebnisses ist nicht geboten, sondern widerspräche dem gesetzgeberischen Konzept. Der Feststellungsbeteiligte ist gegenüber dem Personenkreis des § 233a Abs. 2a AO nicht unangemessen benachteiligt. Denn im Allgemeinen besteht die Möglichkeit, die in einem Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen bereits im Rahmen der Einkommensteuererklärung im Schätzungswege nach § 162 Abs. 5 AO anzugeben und nach § 155 Abs. 2 AO auch vor Erlass des Grundlagenbescheids der Besteuerung zugrunde zu legen.

Der Gesetzgeber hat in § 233a AO stark typisierende Regelungen betreffend den Zinslauf getroffen und die Verzinsung bei Grundlagenbescheiden gerade nicht der besonderen Regelung nach Abs. 2a dieser Vorschrift unterworfen. Diese gesetzgeberische Entscheidung darf durch Billigkeitsmaßnahmen nicht unterlaufen werden.

Eine punktuelle Billigkeitskorrektur ist auch nicht zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung geboten.

Ein anderes Ergebnis folgte im Streitfall auch nicht aus dem Vorbringen des Steuerpflichtigen, die Erbscheinerteilung stelle ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar. Ob die Zinsen nach § 233a Abs. 2 AO oder nach § 233a Abs. 2a AO zu berechnen sind, ist eine Frage der materiell-rechtlichen Richtigkeit der Zinsfestsetzung, nicht hingegen der Billigkeit, und konnte deshalb im Erlassverfahren nicht verfolgt werden.
Verlag Dr. Otto Schmidt