Keine Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen bei Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO
Kurzbesprechung
BFH v. 29.4.2025 - VI R 14/23
AO § 165 Abs 1 S 2 Nr. 3, AO § 165 Abs 2, AO § 172ff, AO § 172
EStG § 4 Abs 9, EStG § 9 Abs 6
Die Steuerpflichtige studierte nach einer dreimonatigen Ausbildung zur Rettungssanitäterin in den Jahren 2011 bis 2016 Medizin. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (2015 und 2016) machte sie die Kosten hierfür als (vorab entstandene) Werbungskosten (Ausbildungskosten) nach § 9 Abs. 6 EStG geltend.
Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung der Streitjahre erkannte das FA die Aufwendungen erklärungsgemäß, aber abweichend von der gesetzlichen Regelung in § 9 Abs. 6 EStG, als Werbungskosten für eine Zweitausbildung an. Die Bescheide ergingen hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung unter einem Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Im Vorläufigkeitsvermerk wurde ausgeführt, die Vorläufigkeitserklärung erfasse die Frage, ob § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG mit höherrangigem Recht vereinbar sei.
Nachdem das BVerfG mit Beschluss vom 19.11.2019 - 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14 (BVerfGE 152, 274) entschieden hatte, dass § 9 Abs. 6 EStG verfassungsgemäß sei, änderte das FA die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 AO mit der Begründung, die Ausbildung der Steuerpflichtigen zur Rettungssanitäterin habe nicht den vom Gesetz geforderten Mindestumfang von zwölf Monaten aufgewiesen. Deshalb sei das Medizinstudium als Erstausbildung anzusehen, so dass die Aufwendungen hierfür gemäß § 9 Abs. 6 EStG nicht als Werbungskosten abzugsfähig seien. Es handele sich um ‑‑ im Streitfall steuerlich unerhebliche ‑‑ Sonderausgaben im Sinne von § 10 EStG.
Nach erfolglosem Einspruch gab das FG der eingelegten Klage statt. Im Revisionsverfahren bestätigte der BFH die Entscheidung der Vorinstanz.
§ 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO erlaubt die Korrektur einer rechtswidrigen, nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzung weder zu Lasten noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen. Denn nach dem eindeutigen Wortlaut des § 165 Abs. 2 Satz 1 AO sind die Finanzbehörden lediglich "soweit" zur Änderung befugt, als sie die Steuer vorläufig festgesetzt haben. Es handelt sich deshalb bei § 165 Abs. 2 AO nicht um eine allgemeine Korrekturvorschrift betreffend die Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung. Vielmehr erlaubt der Umstand, dass eine Steuer vorläufig festgesetzt wurde, Änderungen nur insoweit, als sie dem durch die Vorläufigkeitsvermerke gesteckten Änderungsrahmen entsprechen. Im Übrigen wird die Steuerfestsetzung bestandskräftig und kann nur nach den §§ 172 ff. AO geändert oder gemäß § 129 AO berichtigt werden.
Ist die Festsetzung der Einkommensteuer ‑‑ wie im Streitfall ‑‑ gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht (im Streitfall die Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben nur nach vorheriger zwölfmonatiger Erstausbildung) für vorläufig erklärt worden, kann die Einkommensteuerfestsetzung nur im Hinblick auf eine die Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht bestätigende Entscheidung des BVerfG aufgehoben oder geändert werden.
Bestätigt das BVerfG die Vereinbarkeit des Steuergesetzes (im Streitfall § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG) mit höherrangigem Recht, besteht hingegen kein Korrekturbedarf; eine Änderung der Steuerfestsetzung ist mithin ausgeschlossen. Sie ist vielmehr ‑‑ auf Antrag des Steuerpflichtigen ‑‑ für endgültig zu erklären (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO). Die Frage nach der zutreffenden Anwendung des Steuergesetzes, welches mit höherrangigem Recht vereinbar ist, also die Frage nach der materiellen Richtigkeit der bisherigen Steuerfestsetzung, stellt sich insoweit nicht.
Verlag Dr. Otto Schmidt
AO § 165 Abs 1 S 2 Nr. 3, AO § 165 Abs 2, AO § 172ff, AO § 172
EStG § 4 Abs 9, EStG § 9 Abs 6
Die Steuerpflichtige studierte nach einer dreimonatigen Ausbildung zur Rettungssanitäterin in den Jahren 2011 bis 2016 Medizin. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (2015 und 2016) machte sie die Kosten hierfür als (vorab entstandene) Werbungskosten (Ausbildungskosten) nach § 9 Abs. 6 EStG geltend.
Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung der Streitjahre erkannte das FA die Aufwendungen erklärungsgemäß, aber abweichend von der gesetzlichen Regelung in § 9 Abs. 6 EStG, als Werbungskosten für eine Zweitausbildung an. Die Bescheide ergingen hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung unter einem Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Im Vorläufigkeitsvermerk wurde ausgeführt, die Vorläufigkeitserklärung erfasse die Frage, ob § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG mit höherrangigem Recht vereinbar sei.
Nachdem das BVerfG mit Beschluss vom 19.11.2019 - 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14 (BVerfGE 152, 274) entschieden hatte, dass § 9 Abs. 6 EStG verfassungsgemäß sei, änderte das FA die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 AO mit der Begründung, die Ausbildung der Steuerpflichtigen zur Rettungssanitäterin habe nicht den vom Gesetz geforderten Mindestumfang von zwölf Monaten aufgewiesen. Deshalb sei das Medizinstudium als Erstausbildung anzusehen, so dass die Aufwendungen hierfür gemäß § 9 Abs. 6 EStG nicht als Werbungskosten abzugsfähig seien. Es handele sich um ‑‑ im Streitfall steuerlich unerhebliche ‑‑ Sonderausgaben im Sinne von § 10 EStG.
Nach erfolglosem Einspruch gab das FG der eingelegten Klage statt. Im Revisionsverfahren bestätigte der BFH die Entscheidung der Vorinstanz.
§ 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO erlaubt die Korrektur einer rechtswidrigen, nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzung weder zu Lasten noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen. Denn nach dem eindeutigen Wortlaut des § 165 Abs. 2 Satz 1 AO sind die Finanzbehörden lediglich "soweit" zur Änderung befugt, als sie die Steuer vorläufig festgesetzt haben. Es handelt sich deshalb bei § 165 Abs. 2 AO nicht um eine allgemeine Korrekturvorschrift betreffend die Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung. Vielmehr erlaubt der Umstand, dass eine Steuer vorläufig festgesetzt wurde, Änderungen nur insoweit, als sie dem durch die Vorläufigkeitsvermerke gesteckten Änderungsrahmen entsprechen. Im Übrigen wird die Steuerfestsetzung bestandskräftig und kann nur nach den §§ 172 ff. AO geändert oder gemäß § 129 AO berichtigt werden.
Ist die Festsetzung der Einkommensteuer ‑‑ wie im Streitfall ‑‑ gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht (im Streitfall die Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben nur nach vorheriger zwölfmonatiger Erstausbildung) für vorläufig erklärt worden, kann die Einkommensteuerfestsetzung nur im Hinblick auf eine die Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht bestätigende Entscheidung des BVerfG aufgehoben oder geändert werden.
Bestätigt das BVerfG die Vereinbarkeit des Steuergesetzes (im Streitfall § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG) mit höherrangigem Recht, besteht hingegen kein Korrekturbedarf; eine Änderung der Steuerfestsetzung ist mithin ausgeschlossen. Sie ist vielmehr ‑‑ auf Antrag des Steuerpflichtigen ‑‑ für endgültig zu erklären (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO). Die Frage nach der zutreffenden Anwendung des Steuergesetzes, welches mit höherrangigem Recht vereinbar ist, also die Frage nach der materiellen Richtigkeit der bisherigen Steuerfestsetzung, stellt sich insoweit nicht.