28.04.2022

Kindergeld für behinderte Kinder

Zu den Bezügen des Kindes gehört der Anteil der Kapitalleistung einer Rentenversicherung mit Gewinnbeteiligung (Altvertrag), welcher von der Versicherungsgesellschaft erwirtschaftet wurde. Dagegen handelt es sich bei dem Teil der Auszahlung, der auf angesparten Beiträgen beruht, um Vermögen. Die mangelnde Bestimmung eines Bezuges für Unterhaltszwecke muss sich regelmäßig aus den Umständen objektiv nachvollziehbar ableiten lassen. Allein die Erklärung des Kindergeldberechtigten oder des Kindes, ein Bezug sei nicht für den (gegenwärtigen) Unterhalt bestimmt, führt nicht dazu, dass dieser bei der Ermittlung der Selbstunterhaltsfähigkeit unberücksichtigt bleibt.

Kurzbesprechung
BFH v. 15. 12. 2021 - III R 48/20

EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr. 3, § 62 Abs 1 S 1, § 63 Abs 1 S 1, § 63 Abs 1 S 2

Streitig war der Kindergeldanspruch für ein volljähriges behindertes Kind (W), welches die Auszahlung einer einmaligen Kapitalleistung aus einer Rentenversicherung mit Gewinnbeteiligung (Altvertrag) wählte und erhielt.

Seit Juni 1983 war W Versicherungsnehmer (und versicherte Person) eines Rentenversicherungsvertrages mit Gewinnbeteiligung, für den damals zunächst monatliche Beiträge von 99,40 DM vereinbart waren. Die Beitragszahlungspflicht endete zum 01.06.2019. Die Beiträge hatte die Mutter (Anspruchsberechtigte) entrichtet. W erhielt ‑‑statt monatlicher Renten von 330,12 €‑‑ zum 01.06.2019 eine einmalige Kapitalleistung aus dieser Versicherung in Höhe von 77.698,54 €. Daraufhin hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab 01.07.2019 auf. Den Einspruch der Anspruchsberechtigten wies die Familienkasse als unbegründet zurück.

Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Ein behindertes Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits. Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge, d.h. grundsätzlich alle Mittel, die zur Deckung seines Lebensunterhalts geeignet und bestimmt sind und ihm im maßgeblichen Zeitraum zufließen, nicht jedoch sein Vermögen.

Da es festzustellen gilt, ob das Kind sich aus eigenen Mitteln unterhalten kann oder ob es auf Mittel des Kindergeldberechtigten angewiesen ist, sind als Einnahmen auch laufende oder einmalige Geldzuwendungen von dritter Seite anzusehen, soweit sie nicht der Kapitalanlage dienen, sondern den Unterhaltsbedarf des Kindes decken und damit die Eltern bei ihren Unterhaltsleistungen entlasten sollen. Für die Eignung genügt es, dass der Zufluss entsprechend verwendet werden kann. Wie er tatsächlich verwendet wird, spielt keine Rolle.

Das Vermögen des behinderten Kindes gehört nicht zu den finanziellen Mitteln, die es für den Selbstunterhalt einzusetzen hat. Somit sind Einkünfte und Bezüge einerseits und Vermögen sowie Vermögensumschichtungen andererseits voneinander abzugrenzen. Während Einkünfte und Bezüge im Grundsatz alle finanziellen Mittel sind, die jemandem im maßgeblichen Zeitraum zusätzlich zufließen, die er also wertmäßig dazu erhält, ist Vermögen das, was er vor diesem Zeitraum bereits hatte.

Das FG war zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Zahlung der Versicherung insgesamt eine reine Vermögensumschichtung darstellt und deshalb nicht zu den finanziellen Mitteln gehört, die im Streitzeitraum Juli bis November 2019 in die Prüfung der Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt einzubeziehen sind.

Den von der Versicherung erwirtschafteten Betrag hatte W weder angespart noch wurde er ihm von der Anspruchsberechtigten übertragen. Er ist zur Deckung des Lebensbedarfs des Kindes geeignet und bestimmt; es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er keine Entlastung der kindergeldberechtigten Mutter bewirken könnte. Für die Eignung zur Deckung des Lebensbedarfs genügt es, dass der Betrag entsprechend verwendet werden kann. Wie er tatsächlich verwendet wird oder ob er für die Zeit nach dem Tod der Anspruchsberechtigten angespart wird, spielt keine Rolle. Diese Erklärung der Anspruchsberechtigten rechtfertigt für sich genommen auch nicht die Annahme, die Zahlung der Versicherung sei nicht zur Deckung des Lebensbedarfs des W bestimmt. Objektive Umstände, aus denen das Fehlen einer solchen Bestimmung abgeleitet werden kann, lagen im Streitfall nicht vor.

Nicht zu berücksichtigen ist der Kapital- oder Sparanteil der Versicherungsleistung. Insoweit liegt eine Vermögensumschichtung vor und es fehlt an einem Zufluss "von außen". Außerdem wird ‑‑da die Anspruchsberechtigte dem Kind die Mittel für die Beitragszahlungen zur Verfügung gestellt hatte ‑‑ dem Grundsatz Rechnung getragen, dass Vermögensübertragungen des Kindergeldberechtigten oder der Eltern auf das Kind bei der Ermittlung der Bezüge des Kindes außer Betracht zu lassen sind.

Die Betrachtung der Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist grundsätzlich monatsbezogen vorzunehmen. Dabei sind die Einkünfte und Bezüge nach dem Zuflussprinzip des § 11 EStG zu erfassen, soweit für Gewinneinkünfte nicht das Realisationsprinzip gilt. Der danach verbleibende Teil der im Juni 2019 ausgezahlten Versicherungsleistung war auf den Zuflussmonat und die folgenden Monate des Zuflussjahres zu verteilen.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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