01.06.2023

Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit i.S. des § 16 Abs. 4 EStG

1. Für die Feststellung der dauernden Berufsunfähigkeit i.S. des § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG gelten die allgemeinen Beweisregeln. Daher darf das Gericht im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung auch nichtamtliche Unterlagen, z.B. Gutachten und andere Äußerungen von Fachärzten und sonstigen Medizinern, heranziehen.
2. Eine dauernde Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne ist gegeben, wenn zum einen die Voraussetzungen des § 240 Abs. 2 SGB VI erfüllt sind und dieser Zustand zum anderen nicht nur in einem geringeren Ausmaß zeitlich befristet ist. Dieses bedarf einer Einzelfallprüfung.

Kurzbesprechung
BFH v. 14.12.2022 - X R 10/21

FGO § 96 Abs 1 S 1, § 118 Abs 2
EStG § 16 Abs 1 S 1 Nr. 1, § 16 Abs 4 S 1, § 33 Abs 3, § 33 Abs 4, § 33b
EStDV § 64 Abs 1, § 65
SGB 6 § 240 Abs 2


Gemäß § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG wird der sich bei einer (Teilbetriebs-)Veräußerung ergebende Gewinn auf Antrag nur zur Einkommensteuer herangezogen, soweit er 45.000 € übersteigt, sofern der Steuerpflichtige u.a. im sozialversicherungsrechtlichen Sinn dauernd berufsunfähig ist. Hintergrund der Anknüpfung der dauernden Berufsunfähigkeit an eine solche "im sozialversicherungsrechtlichen Sinne" und folglich die Verweisung in das Sozialversicherungsrecht war der erkennbare Wille des Gesetzgebers, einer Ausweitung der steuerlichen Vorteile aus § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG entgegenzutreten. Denn die höchstrichterliche Rechtsprechung hatte den Begriff der Berufsunfähigkeit, der sich auch in § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung als Voraussetzung für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente fand, für Zwecke des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. eigenständig ausgelegt.

§ 16 Abs. 4 Satz 1 EStG verweist auf § 240 Abs. 2 SGB VI, der den Rentenanspruch wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit regelt. Berufsunfähig nach § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 240 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 SGB VI).

§ 16 Abs. 4 Satz 1 EStG verweist zwar auf das Sozialversicherungsrecht, eine Tätigkeit in einem Verweisungsberuf i.S. von § 240 Abs. 2 SGB VI kann im Rahmen des § 16 Abs. 4 EStG aber nur dann zu berücksichtigen sein, wenn sie in dem veräußerten bzw. aufgegebenen Betrieb ohne größere Schwierigkeiten ausgeübt werden könnte. Dem SGB VI fehlt zudem eine Aussage, wann die Berufsunfähigkeit dauernd ist, da § 240 Abs. 2 SGB VI zur Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit schweigt. Aufgrund des Zusammenspiels mit der Vorschrift des § 101 Abs. 1 SGB VI ist allerdings davon auszugehen, dass die verminderte Erwerbsfähigkeit mehr als sechs Monate andauern muss. Denn § 101 Abs. 1 SGB VI lässt die Leistung einer befristeten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Einschränkung des Eintritts der beruflichen Leistungsfähigkeit zu.

Anders als § 240 Abs. 2 SGB VI stellt die Begünstigung der Betriebsveräußerung nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG ausdrücklich auf die Dauerhaftigkeit einer Berufsunfähigkeit ab. Beachtet man weiter, dass der Freibetrag regelmäßig im Zusammenhang mit der Beendigung einer gewerblichen Betätigung zum Tragen kommt, wird mehr als nur eine zeitlich befristete Erwerbsminderung von wenigen Monaten zu verlangen sein. Entscheidend ist, dass erst eine dauernde Berufsunfähigkeit zur Gewährung des Freibetrags führen darf.

Die dauernde Berufsunfähigkeit muss zum Zeitpunkt der Teilbetriebsveräußerung bereits gegeben sein. Der Steuerpflichtige, der die Anwendung des § 16 Abs. 4 EStG begehrt, trägt die Feststellungslast für die Erfüllung der hierfür erforderlichen Voraussetzungen einschließlich des Erfordernisses, "im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig" zu sein.

Der Nachweis einer Berufsunfähigkeit kann durch Bescheide der Sozialversicherungsträger oder auch durch amtsärztliche Bescheinigungen geführt werden. Darüber hinaus sind jedoch weitere Nachweise, insbesondere in Form von fachärztlichen Bescheinigungen, möglich. Denn ein formalisiertes Nachweisverlangen kann den Gesetzesmaterialien nicht entnommen werden. Dieses ergibt sich auch nicht aus dem Sinn und Zweck des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG.

Da das FG im Streitfall seine Auffassung, die Steuerpflichtige sei bereits zum Zeitpunkt der Teilbetriebsveräußerung dauerhaft berufsunfähig im sozialversicherungsrechtlichen Sinne gewesen, nicht auf ausreichende tatsächliche Feststellungen gestützt hatte, hob der BFH die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das FG zurück.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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