21.11.2024

Vereinbarkeit des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG mit höherrangigem Recht

1. Die Regelung des § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes, dass die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats erfolgt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist, ist sowohl verfassungsgemäß als auch unionsrechtskonform.
2. Auch für inländische Saisonarbeitnehmer gilt die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737), dass ein im Heimatland (zum Beispiel gleich nach der Geburt des Kindes) gestellter Kindergeldantrag nur dann als ein auch für die inländische Familienkasse relevanter Antrag zu verstehen ist, wenn die antragstellende Person ihr Recht auf Freizügigkeit im Zeitpunkt ihres im Heimatland gestellten Antrags bereits ausgeübt hat.

Kurzbesprechung
BFH v. 8.8.2024 - III R 19/22

EStG § 67, § 70 Abs 1 S 2
EGV 883/2004 Art 81
AEUV Art 267


Nach der vom BFH als verfassungsgemäß angesehenen Norm des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG erfolgt die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld bei der Familienkasse eingegangen ist. Im Gegensatz zur vorherigen Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz vom 23.06.2017, BStBl. I 2017, 865) betrifft § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht mehr das Festsetzungsverfahren, sondern das Erhebungsverfahren.

§ 70 Abs 1 Satz 2 EStG normiert ein spezialgesetzliches Auszahlungshindernis. Im Streitfall reichte die Antragstellerin den Kindergeldantrag vorliegend erst am 15.11.2019 bei der Familienkasse ein. Die rückwirkende Auszahlung des im Anschluss daran auch für den Streitzeitraum festgesetzten Kindergelds war deshalb auf die Monate Mai 2019 bis Oktober 2019 beschränkt. Insbesondere besteht nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG kein Auszahlungsanspruch für April 2019, da dieser Monat bereits außerhalb des Sechsmonatszeitraums liegt.

Ausgehend von dem gemäß § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG maßgeblichen Zeitpunkt des Antragseingangs nach dem 18.07.2019 war der zeitliche Anwendungsbereich des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG im Streitfall eröffnet. Der Antrag, an den im Streitfall anzuknüpfen ist, war der Antrag der Antragstellerin vom 15.11.2019, nicht der jeweilige in Rumänien nach den Geburten der Kinder im Februar 2013 beziehungsweise Mai 2015 gestellte Antrag.

Gegen diese Auslegung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG bestehen auch keine unionsrechtlichen Bedenken. Der BFH verweist hierzu insbesondere auf das Urteil des EuGH Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 sowie auf die Entscheidung des BFH v. 11.07.2024 - III R 31/23 (zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt).

Im Streitfall hatte die Antragstellerin daher für den gesamten Streitzeitraum keinen Anspruch auf Auszahlung des festgesetzten Kindergelds.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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