09.10.2025

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Kein Erfordernis der Anforderung einer Lesebestätigung bei Übersendung eines Einspruchs per E-Mail

Wird ein Einspruch per E-Mail eingelegt, so ist das Unterlassen der Anforderung einer Empfangs- oder Lesebestätigung ohne Einfluss auf das Verschulden der Fristversäumnis im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags.

Kurzbesprechung
BFH v. 29.4.2025 - VI R 2/23

AO § 87a Abs 1 S 2 Halbs 1, AO § 110 Abs 1, AO § 110 Abs 2, AO § 355 Abs 1 S 1
FGO § 52a Abs 5 S 2


Im Streitfall ging es um die Einkommensteuerbescheide 2015 - 2017 v. 8.8.2018. Mit E-Mail vom 10.08.2018 beantragte der Prozessbevollmächtigte des Steuerpflichtigen die schlichte Änderung dieser Bescheide aufgrund nicht anerkannter Werbungskosten. Den dahingehenden Antrag lehnte das FA am 23.08.2018 ab.

Am 31.5.2019 teilte ein Mitarbeiter des Prozessbevollmächtigten des Steuerpflichtigen dem FA per E-Mail mit, er habe am 29.05.2019 mit dem FA telefonisch Rücksprache gehalten und dabei erfahren, dass dort kein Einspruch gegen die Steuerbescheide vom 8.8.2018 für die Streitjahre vorliege. Er bitte um Bearbeitung des Einspruchs, welcher dem FA bereits zum 30.8.2018 zugegangen sei. Als Anhang war dieser E-Mail ein Ausdruck der vom Prozessbevollmächtigten unterschriebenen E-Mail vom 30.8.2018 beigefügt, mit der gegen die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre Einspruch eingelegt und eine Begründung angekündigt wurde. Ausweislich dieses Ausdrucks wurde die E-Mail am 30.8.2018 um 14:54 Uhr vom Account des Prozessbevollmächtigten an die Poststelle des FA versandt. In das E-Mail-Postfach des Mitarbeiters (er war Cc eingesetzt) ging die E-Mail-Kopie am 30.8.2018 um 15:54 Uhr ein.

Am 26.06.2019 teilte das FA dem Prozessbevollmächtigten des Steuerpflichtigen mit, dass die E-Mail beziehungsweise der Einspruch vom 30.8.2018 nicht beim FA eingegangen sei. Ein solcher sei vielmehr erst durch die E-Mail vom 31.05.2019 und damit nach Ablauf der Einspruchsfrist eingelegt worden.

Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig und gewährte auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO). Dagegen gab das FG der eingelegten Klage statt. Die Revision des FA blieb ohne Erfolg.

Der BFH entschied, dass das FG zu Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hatte.

War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm nach § 110 Abs. 1 Satz 1 AO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verschulden eines Vertreters ist dabei dem Vertretenen zuzurechnen (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO). Nach § 110 Abs. 2 AO muss der Antrag innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt und die versäumte Handlung nachgeholt werden. Ist Letzteres geschehen, so kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.

Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Dabei muss der Kern des geltend gemachten Wiedereinsetzungsgrundes innerhalb der Antragsfrist schlüssig vorgetragen werden. Nach Ablauf der Monatsfrist können unvollständige Angaben noch erläutert und ergänzt werden, das spätere Nachschieben von Wiedereinsetzungsgründen ist hingegen nicht zulässig.

"Ohne Verschulden" verhindert eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist jemand, wenn er die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Jedes Verschulden ‑‑ also auch einfache Fahrlässigkeit ‑‑ schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus.

Im Streitfall war das FG zu Recht davon ausgegangen, dass der Steuerpflichtige ohne Verschulden verhindert war, die Einspruchsfrist zu wahren, so dass ihm das FA angesichts des Vorliegens der weiteren Wiedereinsetzungserfordernisse Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte gewähren müssen.

Der Steuerpflichtige hatte die versäumte Rechtshandlung (die Einlegung des Einspruchs) innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist nachgeholt und das Wiedereinsetzungsgesuch auch ausreichend und fristgerecht begründet.

Der Steuerpflichtige hatte die Einspruchsfrist auch schuldlos versäumt. Denn der Prozessbevollmächtigte hatte die E-Mail vom 30.8.2018 zutreffend an die Poststelle des FA adressiert und keinen Rücklauf der E-Mail als unzustellbar erhalten. Mit der Absendung der zutreffend adressierten E-Mail hatte der Steuerpflichtige (beziehungsweise sein Prozessbevollmächtigter) alles ihm Mögliche (und Erforderliche) getan, damit die E-Mail seinen Verantwortungsbereich tatsächlich verlässt; auf die Dauer der "elektronischen" Beförderung der E-Mail vom Absendeserver zum Server des Empfängers und die Ablage von dort in das E-Mail-Postfach des Empfängers sowie einen "Verlust" der E-Mail im "Netz" hatte er keinen Einfluss und musste für diese Fälle auch keine Vorkehrungen treffen. Deshalb ist er auch nicht gehalten, sich des Zugangs der E-Mail beim Empfänger zu versichern, sondern darf auf den ordnungsgemäßen "elektronischen Postgang" vertrauen.

Ein Verschulden des Steuerpflichtigen ergibt sich auch nicht daraus, dass der Prozessbevollmächtigte den Einspruch im Streitfall per einfacher E-Mail, mithin ohne Anforderung einer Empfangs- oder Lesebestätigung, übermittelt hatte. Auch wenn bei der Übersendung einer E-Mail trotz der gegenwärtigen technischen Bedingungen stets die Gefahr besteht, dass diese den Empfänger ‑‑ etwa wegen einer technischen Störung, eines Spam-Filters oder eines Bedienfehlers ‑‑ nicht erreicht, kann dies ein gegen eine Wiedereinsetzung streitendes Verschulden des Steuerpflichtigen nicht begründen. Eine qualifizierte Zustellart sieht § 87a AO i.d.F. der Streitjahre nicht vor.

Auch enthält die Abgabenordnung keine dem § 52a Abs. 5 Satz 2 FGO entsprechende Vorschrift. Aus dieser Vorschrift ist abgeleitet worden, dass zur Überprüfung der ordnungsgemäßen Übermittlung eines Schriftstücks an ein Gericht zu prüfen ist, ob das Gericht den Eingang des elektronischen Dokuments gemäß § 52a Abs. 5 Satz 2 FGO bestätigt hat. Mangels einer entsprechenden gesetzlichen Vorgabe in der Abgabenordnung bedarf es auch zur Annahme eines schuldlosen Verhaltens keiner Vorlage einer Empfangs- oder Lesebestätigung, zumal sowohl eine lesebestätigungsbewehrte als auch eine einfache, ohne Anforderung einer Empfangs- oder Lesebestätigung übermittelte E-Mail dem nämlichen "Übermittlungsrisiko" ausgesetzt ist.
Verlag Dr. Otto Schmidt