06.08.2012

Zum Vorliegen eines Verfahrensmangels wegen unvollständiger Sachverhaltsaufklärung

Die dem FG als Tatsacheninstanz aufgegebene Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts gebietet zwar nicht, auch fern liegenden Überlegungen und Erwägungen nachzugehen. Soweit sich allerdings aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen und sonstigen Umständen Fragen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt aufdrängen, muss das FG auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten den Sachverhalt dahingehend weiter erforschen und auch entsprechende Beweise erheben.

BFH 4.6.2012, VI B 10/12
Der Sachverhalt:
Im finanzgerichtlichen Verfahren war u.a. streitig, ob die von den Klägern selbst erhobene Klage rechtzeitig durch Einwurf in den Briefkasten des Finanzamts erhoben worden war. Die Klage richtete sich gegen die Einkommensteuerbescheide der Jahre 1997 bis 2000 sowie 2003 in der Fassung der Einspruchsentscheidungen vom 6.9.2010. Die Einspruchsentscheidungen waren nach den Feststellungen des FG am selben Tag zur Post gegeben worden.

Die Klage ging ausweislich des Eingangsstempels am 12.10.2010 beim FG ein. Die Klageschrift und eine Vollmacht befanden sich in einem unfrankierten DIN A5 Umschlag, der an das FG in Hannover unter Angabe der Straße und Postleitzahl adressiert war. Die Kläger tragen dazu vor, dass der Kläger den Briefumschlag, in dem sich die Klageschrift befunden habe, am Samstag, den 9.10.2010, persönlich in den Briefkasten der Außenstelle des Finanzamts eingeworfen habe.

Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Die Einspruchsentscheidungen seien unstreitig am 6.9.2010 vom Finanzamt zur Post gegeben worden. Nach § 122 Abs. 2 AO gälten sie daher als am 9.9.2010 als bekannt gegeben, so dass die Klagefrist mit Ablauf des 11.10.2010 (Montag) geendet habe. Deshalb sei die Klageschrift, die ausweislich des Eingangsstempels erst am 12.10.2010 beim FG eingegangen sei, verspätet erhoben worden. Auf die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hob der BFH das Urteil auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.

Die Gründe:
Das FG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt und damit gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen.

Nach § 76 Abs. 1 S. 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und gem. § 81 Abs. 1 S. 2 FGO die erforderlichen Beweise zu erheben. Dabei hat es den entscheidungserheblichen Sachverhalt so vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d.h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel, aufzuklären. Diesen Anforderungen ist vorliegend nicht entsprochen. Die dem FG aufgegebene Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts gebietet zwar nicht, auch fern liegenden Überlegungen und Erwägungen nachzugehen. Soweit sich allerdings z.B. aus den beigezogenen Akten oder dem Beteiligtenvorbringen Fragen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt aufdrängen, muss das FG auch ohne Hinweis der Beteiligten den Sachverhalt dahingehend weiter erforschen und entsprechende Beweise erheben.

Von einem solchen weiter aufklärungsbedürftigen Sachverhalt ist im Streitfall auszugehen. Denn angesichts der entscheidungserheblichen Frage, ob der Briefumschlag mit der darin befindlichen Klageschrift tatsächlich, wie vom Kläger vorgetragen, beim Finanzamt eingeworfen wurde, drängt sich die weitere Sachverhaltsaufklärung dazu auf, ob und inwieweit die Schilderung des Finanzamts hinsichtlich der Usancen der Weiterleitung von dort eingegangener, aber für das FG bestimmter Post zum einen zutrifft und zum anderen in der täglichen Praxis von den Bediensteten des Finanzamts tatsächlich auch so gehandhabt worden war. Dies gilt insbes. deshalb, weil sich Zweifel an dieser Schilderung daraus ergeben, dass unter Berücksichtigung des Sachverhalts, den das FG in seiner Entscheidung als Geschehensablauf zu Grunde gelegt hatte, völlig ungeklärt bleibt, auf welchem Weg die Klageschrift das FG erreicht hatte.

Denn der bei den finanzgerichtlichen Akten befindliche Umschlag, der die Klageschrift samt Vollmacht enthielt, war unfrankiert und an das FG unmittelbar adressiert. Eine nahe liegende Erklärung dafür wäre, dass der Vortrag des Klägers zutrifft, die Klageschrift tatsächlich beim Finanzamt eingeworfen zu haben, das Finanzamt dann diese samt Umschlag an das FG weitergeleitet hatte und dabei versehentlich kein entsprechender Stempel aufgebracht worden war. Davon ging das FG allerdings nicht aus. Es hat sich vielmehr die Schilderung des Finanzamts zum üblichen Ablauf der Weiterleitung dort eingegangener, aber für das FG bestimmter Schriftstücke zu Eigen gemacht. Fraglich erscheint allerdings, auf Grundlage welcher konkreten Umstände das FG zu der Überzeugung gelangen konnte, dass dies hier tatsächlich so war.

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