Zur Unkenntnis der Finanzbehörde bei einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
Kurzbesprechung
BFH v. 14.5.2025 - VI R 14/22
AO § 149 Abs 1 S 1, AO § 152, AO § 169 Abs 1 S 1, AO § 169 Abs 2 S 1 Nr. 2, AO § 169 Abs 2 S 2, AO § 170 Abs 1, AO § 170 Abs 2 S 1 Nr 1, AO § 370 Abs 1 Nr 2, AO § 378 Abs 1 EStG § 25 Abs 3, EStG § 26, EStG § 26b, EStG § 46 Abs 2 Nr 3a
EStDV § 56 S 1 Nr. 1 Buchst b
StGB § 1
GG Art 103 Abs 2
Die Steuerpflichtigen sind Eheleute und wurden für die Streitjahre (2009 und 2010) zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2008 erzielte lediglich der Ehemann Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, wobei sein Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse III erfolgte. Bis zum VZ 2008 wurden regelmäßig Einkommensteuererklärungen eingereicht. Das FA speicherte den Steuerfall als Antragsveranlagung.
In den Streitjahren 2009 und 2010 erzielte auch die Ehefrau Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Weitere Einkünfte erzielten die Steuerpflichtigen nicht. Der Lohnsteuerabzug des Ehemanns erfolgte weiterhin nach der Steuerklasse III, derjenige der Ehefrau nach der Steuerklasse V. Ihr Steuerfall blieb beim FA als Antragsveranlagung gespeichert.
Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden dem FA von den jeweiligen Arbeitgebern übermittelt und im Datenverarbeitungsprogramm unter der Steuernummer der Eheleute in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar erfasst. Außerdem händigten die Arbeitgeber den Eheleuten Ausdrucke der jeweiligen elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen aus, auf denen vermerkt war, dass die Daten maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.
Steuererklärungen reichten die Eheleute für die Streitjahre nicht mehr ein. Aufforderungen zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen erließ das FA nicht. Die wesentlichen Veranlagungsarbeiten (zu 95 %) schloss es für das Streitjahr 2009 am 31.03.2011 und für das Streitjahr 2010 am 31.03.2012 ab.
Anfang des Jahres 2018 fiel bei Bearbeitung einer von der Oberfinanzdirektion übersandten eDaten-Prüfliste auf, dass mit Aufnahme der nichtselbständigen Arbeit durch die Ehefrau im Jahr 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Steuerpflichtigen daher entsprechend verpflichtet gewesen wären, Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre abzugeben.
Das FA erließ daraufhin für die Streitjahre Schätzungsbescheide. Der hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das FG statt. Es war im Wesentlichen der Ansicht, dass der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht erfüllt sei, weil dem zuständigen Bearbeiter die für eine Veranlagung der Steuerpflichtigen erforderlichen Informationen abrufbar zur Verfügung gestanden hätten. Das FA habe deshalb zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt.
Im Revisionsverfahren hob der BFH die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall an das FG zurück.
Der BFH widersprach der Auffassung des FG, dass im Streitfall eine Verlängerung der regulären Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 370, 378 Abs. 1 AO deshalb nicht in Betracht komme, weil das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt habe und der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen beziehungsweise einer leichtfertigen Steuerverkürzung daher nicht erfüllt sei.
Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen, wer vorsätzlich die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt. Ob ein tatbestandsmäßiges In-Unkenntnis-Lassen bereits dann vorliegt, wenn Steuererklärungen ‑‑ wie im Streitfall ‑‑ pflichtwidrig nicht oder nicht rechtzeitig abgegeben werden oder ob die Norm im Sinne eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals darüber hinaus erfordert, dass die Finanzbehörde im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten) über den wahren Sachverhalt (die steuerlich erheblichen Tatsachen) (noch) keine Kenntnis hat, konnte der BFH offenlassen. Denn das FA hatte zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen jedenfalls noch keine Kenntnis.
Bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen tritt ‑‑ sofern nicht vorher ein Schätzungsbescheid ergangen ist ‑‑ der Taterfolg der Steuerverkürzung zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Veranlagung stattgefunden hätte, wenn die Steuererklärung pflichtgemäß eingereicht worden wäre; dies ist spätestens dann der Fall, wenn das zuständige FA die Veranlagungsarbeiten für die betreffende Steuerart und den betreffenden Zeitraum im Wesentlichen abgeschlossen hat.
Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind beziehungsweise die den (zu ändernden) Steuerbescheid erlassen haben Die Finanzbehörde muss sich danach den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Papierakten, aber ebenso auch einer elektronisch geführten Akte als bekannt zurechnen lassen.
Bekannt sind neben dem Inhalt dieser geführten Akten auch sämtliche Informationen, die dem Sachbearbeiter von anderen (Dienst-)Stellen über ein elektronisches Informationssystem zur Verfügung gestellt werden, ohne dass es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt. Nicht bekannt sind dagegen elektronische Daten, die nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangen und lediglich auf abrufbaren Datenspeichern der Finanzbehörde liegen; dies gilt auch dann, wenn die Daten ‑‑ wie im Streitfall ‑‑ mit der Steuernummer verknüpft sind.
Im Streitfall war das FG zu Unrecht von einer den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ausschließenden Kenntnis des sachlich zuständigen Bearbeiters im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt ausgegangen. Der Steuerfall der Steuerpflichtigen blieb auch in den Streitjahren als Antragsveranlagung gespeichert. Die mit den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an das FA übermittelten Daten waren zwar mit der gemeinsamen Steuernummer der Steuerpflichtigen verknüpft und dieser tatsächlich zugeordnet. Sie waren aber nur aus einem Datenspeicher in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar, ohne dass sie bereits automatisch zu einer Papierakte oder elektronischen Akte gelangt waren.
Angesichts der Speicherung als Antragsveranlagung bestand für den Bearbeiter keine Veranlassung zur Einsicht in den Datenspeicher und zum Datenabruf. Kenntnis von dem steuerrelevanten Tatbestand (den Einkünften auch der Ehefrau und der damit aufgrund der gewählten Steuerklassen III und V bestehenden Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen) hat der sachlich zuständige Bearbeiter vielmehr erstmals Anfang des Jahres 2018 durch die von der Oberfinanzdirektion übersandten eDaten-Prüfliste erlangt.
Da das FG ‑‑ von seinem Standpunkt aus zu Recht ‑‑ insbesondere keine hinreichenden Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO beziehungsweise für das Streitjahr 2010 gegebenenfalls einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) getroffen hatte, verwies der BFH den Streitfall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
Verlag Dr. Otto Schmidt
AO § 149 Abs 1 S 1, AO § 152, AO § 169 Abs 1 S 1, AO § 169 Abs 2 S 1 Nr. 2, AO § 169 Abs 2 S 2, AO § 170 Abs 1, AO § 170 Abs 2 S 1 Nr 1, AO § 370 Abs 1 Nr 2, AO § 378 Abs 1 EStG § 25 Abs 3, EStG § 26, EStG § 26b, EStG § 46 Abs 2 Nr 3a
EStDV § 56 S 1 Nr. 1 Buchst b
StGB § 1
GG Art 103 Abs 2
Die Steuerpflichtigen sind Eheleute und wurden für die Streitjahre (2009 und 2010) zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2008 erzielte lediglich der Ehemann Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, wobei sein Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse III erfolgte. Bis zum VZ 2008 wurden regelmäßig Einkommensteuererklärungen eingereicht. Das FA speicherte den Steuerfall als Antragsveranlagung.
In den Streitjahren 2009 und 2010 erzielte auch die Ehefrau Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Weitere Einkünfte erzielten die Steuerpflichtigen nicht. Der Lohnsteuerabzug des Ehemanns erfolgte weiterhin nach der Steuerklasse III, derjenige der Ehefrau nach der Steuerklasse V. Ihr Steuerfall blieb beim FA als Antragsveranlagung gespeichert.
Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden dem FA von den jeweiligen Arbeitgebern übermittelt und im Datenverarbeitungsprogramm unter der Steuernummer der Eheleute in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar erfasst. Außerdem händigten die Arbeitgeber den Eheleuten Ausdrucke der jeweiligen elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen aus, auf denen vermerkt war, dass die Daten maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.
Steuererklärungen reichten die Eheleute für die Streitjahre nicht mehr ein. Aufforderungen zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen erließ das FA nicht. Die wesentlichen Veranlagungsarbeiten (zu 95 %) schloss es für das Streitjahr 2009 am 31.03.2011 und für das Streitjahr 2010 am 31.03.2012 ab.
Anfang des Jahres 2018 fiel bei Bearbeitung einer von der Oberfinanzdirektion übersandten eDaten-Prüfliste auf, dass mit Aufnahme der nichtselbständigen Arbeit durch die Ehefrau im Jahr 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Steuerpflichtigen daher entsprechend verpflichtet gewesen wären, Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre abzugeben.
Das FA erließ daraufhin für die Streitjahre Schätzungsbescheide. Der hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das FG statt. Es war im Wesentlichen der Ansicht, dass der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht erfüllt sei, weil dem zuständigen Bearbeiter die für eine Veranlagung der Steuerpflichtigen erforderlichen Informationen abrufbar zur Verfügung gestanden hätten. Das FA habe deshalb zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt.
Im Revisionsverfahren hob der BFH die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall an das FG zurück.
Der BFH widersprach der Auffassung des FG, dass im Streitfall eine Verlängerung der regulären Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 370, 378 Abs. 1 AO deshalb nicht in Betracht komme, weil das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt habe und der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen beziehungsweise einer leichtfertigen Steuerverkürzung daher nicht erfüllt sei.
Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen, wer vorsätzlich die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt. Ob ein tatbestandsmäßiges In-Unkenntnis-Lassen bereits dann vorliegt, wenn Steuererklärungen ‑‑ wie im Streitfall ‑‑ pflichtwidrig nicht oder nicht rechtzeitig abgegeben werden oder ob die Norm im Sinne eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals darüber hinaus erfordert, dass die Finanzbehörde im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten) über den wahren Sachverhalt (die steuerlich erheblichen Tatsachen) (noch) keine Kenntnis hat, konnte der BFH offenlassen. Denn das FA hatte zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen jedenfalls noch keine Kenntnis.
Bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen tritt ‑‑ sofern nicht vorher ein Schätzungsbescheid ergangen ist ‑‑ der Taterfolg der Steuerverkürzung zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Veranlagung stattgefunden hätte, wenn die Steuererklärung pflichtgemäß eingereicht worden wäre; dies ist spätestens dann der Fall, wenn das zuständige FA die Veranlagungsarbeiten für die betreffende Steuerart und den betreffenden Zeitraum im Wesentlichen abgeschlossen hat.
Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind beziehungsweise die den (zu ändernden) Steuerbescheid erlassen haben Die Finanzbehörde muss sich danach den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Papierakten, aber ebenso auch einer elektronisch geführten Akte als bekannt zurechnen lassen.
Bekannt sind neben dem Inhalt dieser geführten Akten auch sämtliche Informationen, die dem Sachbearbeiter von anderen (Dienst-)Stellen über ein elektronisches Informationssystem zur Verfügung gestellt werden, ohne dass es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt. Nicht bekannt sind dagegen elektronische Daten, die nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangen und lediglich auf abrufbaren Datenspeichern der Finanzbehörde liegen; dies gilt auch dann, wenn die Daten ‑‑ wie im Streitfall ‑‑ mit der Steuernummer verknüpft sind.
Im Streitfall war das FG zu Unrecht von einer den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ausschließenden Kenntnis des sachlich zuständigen Bearbeiters im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt ausgegangen. Der Steuerfall der Steuerpflichtigen blieb auch in den Streitjahren als Antragsveranlagung gespeichert. Die mit den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an das FA übermittelten Daten waren zwar mit der gemeinsamen Steuernummer der Steuerpflichtigen verknüpft und dieser tatsächlich zugeordnet. Sie waren aber nur aus einem Datenspeicher in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar, ohne dass sie bereits automatisch zu einer Papierakte oder elektronischen Akte gelangt waren.
Angesichts der Speicherung als Antragsveranlagung bestand für den Bearbeiter keine Veranlassung zur Einsicht in den Datenspeicher und zum Datenabruf. Kenntnis von dem steuerrelevanten Tatbestand (den Einkünften auch der Ehefrau und der damit aufgrund der gewählten Steuerklassen III und V bestehenden Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen) hat der sachlich zuständige Bearbeiter vielmehr erstmals Anfang des Jahres 2018 durch die von der Oberfinanzdirektion übersandten eDaten-Prüfliste erlangt.
Da das FG ‑‑ von seinem Standpunkt aus zu Recht ‑‑ insbesondere keine hinreichenden Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO beziehungsweise für das Streitjahr 2010 gegebenenfalls einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) getroffen hatte, verwies der BFH den Streitfall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurück.