§ 20 Abs. 1 Satz 1 GWB: Marktmächtige Unternehmen dürfen unkontrollierte Handlungsspielräume nicht zum Nachteil Dritter ausnutzen
BGH v. 28.3.2025 - KZR 73/23Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte die Klägerin bei der Neuvergabe des Pachtvertrags über einen Steinbruch beteiligen muss. Die Beklagte ist Eigentümerin des Waldes B, den sie vorwiegend als Forstbetrieb bewirtschaftet. Sie ist ferner Verpächterin der im Wald befindlichen Steinbrüche B. (Steinbruch 1) und B-R (Steinbruch 2). Steinbruch 1 ist bis 2045 an E verpachtet, die auch im Straßenbau tätig ist. Steinbruch 2 wurde von der Beklagten mit Pachtvertrag vom 31.1.1963 an die Klägerin verpachtet. Die Klägerin gehört zur D-Gruppe, einem Familienunternehmen mit einem Gesamtjahresumsatz von etwa 20 Mio. €. Geschäftsgegenstand der Klägerin ist der Betrieb des Steinbruchs 2 als ihrer einzigen Betriebsstätte. Sie hat ein mit dem Pachtverhältnis endendes Erbbaurecht an den Flächen, auf denen sie mit den in ihrem Eigentum stehenden Betriebsmitteln eine Aufbereitungsanlage betreibt. Die Natursteinprodukte aus dem Steinbruch vertreibt sie an von ihr unabhängige Unternehmen, die insbesondere im Straßenbau tätig sind. Mit Vereinbarung vom 3.12.1986 einigten sich die Parteien auf eine Fortsetzung des Pachtverhältnisses bis zum 31.1.2023.
Die Klägerin und E haben bis 2014 beim Betrieb der Steinbrüche zusammengearbeitet, sind seither aber im Wettbewerb zueinander tätig. Nach einem mit Zustimmung der Beklagten von der Klägerin betriebenen Planfeststellungsverfahren wurde mit Planfeststellungsbeschluss vom 16.2.2016 ein Rahmenbetriebsplan festgestellt, der den Betrieb des Steinbruchs 2 bis 2038 gestattet. Jedenfalls seit Ausspruch einer ersten Kündigung des Pachtvertrags vom 26.6.2017 beabsichtigt die Beklagte, den Pachtvertrag mit der Klägerin zu beenden und auch den Steinbruch 2 an E zu verpachten. Da die Pachtzahlungen zum größten Teil umsatzabhängig sind, will sie durch den Ausschluss des Wettbewerbs zwischen den Steinbruchbetreibern höhere Pachteinnahmen erzielen. Es ist rechtskräftig festgestellt, dass eine zu diesem Zweck zum 31.1.2019 ausgesprochene Kündigung unwirksam war. Vor dem Ende des Pachtvertrags mit der Klägerin zum 31.1.2023 schloss die Beklagte mit E einen verbindlichen Vorvertrag über die Verpachtung des Steinbruchs 2. Auf ein Schreiben der Klägerin vom 26.6.2021 mit der Aufforderung, die Neuverpachtung kartellrechtskonform und diskriminierungsfrei zu gestalten, antwortete sie nicht.
Die Klägerin verlangte zunächst die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Steinbruch 2 erneut an sie zu den Bedingungen zu verpachten, die auch für E gelten. Das LG wies die Klage ab. In der Berufung verlangte die Klägerin hilfsweise u.a., die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, die Klägerin bei der Pächterauswahl für Steinbruch 2 unbillig zu behindern oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund zu diskriminieren, insbesondere durch Verweigerung der Entgegennahme oder Kenntnisnahme von Angeboten (im folgenden Antrag 1), Auswahl anhand unsachlicher Kriterien wie der Beseitigung des Wettbewerbsverhältnisses zu E (im folgenden Antrag 2), sowie Angebote für eine Pacht durch die Klägerin zu anderen Konditionen, als sie anderen Bietern geboten werden (im folgenden Antrag 3). Das OLG gab dem Hilfsantrag wegen der Anträge 1 bis 3 statt und wies die Berufung im Übrigen zurück. Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin die vollständige Abweisung der Klage.
Auf die Revision der Beklagten hob der BGH das Urteil des OLG insoweit auf, als die Beklagte verurteilt ist, es zu unterlassen, die Klägerin durch Pachtangebote für den Steinbruch R. zu anderen Bedingungen als solchen, die anderen Interessenten geboten werden, unbillig zu behindern oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund zu diskriminieren, und wies die Klage im Umfang der Aufhebung ab. Im Übrigen hatte die Revision der Beklagten keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die Entscheidung des OLG hält der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand, soweit die Beklagte verurteilt ist, es zu unterlassen, die Klägerin durch die Verweigerung der Entgegennahme und der Kenntnisnahme von Angeboten der Klägerin für eine Pacht des Steinbruchs 2 sowie durch die Auswahl der Pächterin anhand des Kriteriums der Beseitigung des Wettbewerbsverhältnisses zur Betreiberin des Steinbruchs B. unbillig zu behindern sowie ohne sachlich gerechtfertigten Grund zu diskriminieren. Die Klägerin hat aber keinen Anspruch darauf, dass ihr die Beklagte die Pacht des Steinbruchs 2 zu den gleichen Bedingungen anzubieten hat wie allen anderen Interessenten.
Das OLG hat im Ergebnis zutreffend angenommen, dass die Klägerin als Pächterin von der Beklagten als Verpächterin i.S.v. § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB abhängig ist. Zu Recht macht zwar die Revision geltend, dass es für die Anerkennung einer unternehmensbedingten Abhängigkeit beim vertraglich vorgesehenen Ende eines Pachtvertrags über ein Geschäftsgrundstück in der Regel keine kartellrechtliche Begründung geben wird. Regelmäßig wird es sich um eine rein bilaterale Vertragsbeziehung ohne eine über die vertragstypische Bindung hinausgehende Wettbewerbsrelevanz handeln, die den Regeln des Zivilrechts unterworfen und bei der der Ausgleich von Härten Aufgabe des Zivilrechts ist. Auf der vom OLG festgestellten Sachverhaltsgrundlage ist hier indes die Annahme gerechtfertigt, dass die Klägerin von der Beklagten i.S.d. § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB unternehmensbedingt abhängig ist.
§ 20 Abs. 1 Satz 1 GWB bezweckt zu verhindern, dass marktmächtige Unternehmen ihre vom Wettbewerb nicht hinreichend kontrollierten Handlungsspielräume zum Nachteil Dritter ausnutzen und dadurch das Marktgeschehen stören. Sinn und Zweck von § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB ist demnach, über den Kreis der marktbeherrschenden Unternehmen hinaus Störungen des Wettbewerbs durch andere marktstarke Unternehmen zu verhindern, soweit sie durch einen Missbrauch wirtschaftlicher Macht hervorgerufen werden. Ein Unternehmen kann, auch wenn es nicht marktbeherrschend ist, eine solch starke Stellung auf dem Markt einnehmen, dass von ihm Störungen des Marktgeschehens ausgehen, wie sie auch durch das für marktbeherrschende Unternehmen geltende Behinderungs- und Diskriminierungsverbot bekämpft werden sollen. Marktstarken Unternehmen wird daher dieselbe Einschränkung der Freiheit der Vertragsgestaltung auferlegt. § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB dient allerdings nicht dem einseitigen Sozialschutz und schützt den Marktteilnehmer auch nicht vor den Folgen geschäftlicher Fehlentscheidungen.
Danach hat das OLG eine unternehmensbedingte Abhängigkeit der Klägerin vom von der Beklagten gepachteten Steinbruch unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls zu Recht bejaht. Zutreffend ist das OLG davon ausgegangen, dass es für die Beurteilung der dem Unternehmen zur Verfügung stehenden ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten grundsätzlich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Behinderung oder Diskriminierung ankommt. Damit ist regelmäßig erst bei der Interessenabwägung gem. § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB zu berücksichtigen, ob und inwieweit eine unternehmensbedingte Abhängigkeit in der Vergangenheit vom einen oder anderen Unternehmen verursacht wurde. Allerdings kann bereits eine unternehmensbedingte Abhängigkeit zu verneinen sein, wenn ein Unternehmen wegen einer eindeutig ihm allein zuzurechnenden geschäftlichen Fehlentscheidung oder wegen einer bloß einseitigen Spezialisierung (lediglich) vorübergehende Nachteile hinnehmen muss.
Das OLG hat zu Recht angenommen, dass der Klägerin keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Klägerin hat ihren Geschäftsbetrieb vollständig auf die Ausbeutung des gepachteten Steinbruchs ausgerichtet. Sie gewinnt aus dem Steinbruch die Natursteine, deren Vertrieb den Kern ihres Geschäfts bildet. Aufgrund ihrer auf den Steinbruch ausgerichteten Betriebsanlagen, der darauf bezogenen bergrechtlichen Zulassungen und damit der Ortsgebundenheit ihres Geschäfts ist sie vom Pachtgrundstück vollständig abhängig und muss ihren Betrieb einstellen, wenn der Pachtvertrag nicht verlängert wird.
Aufsatz
Das New Competition Tool: Scheitert eine echte Erweiterung des kartellrechtlichen Instrumentariums wirklich am Unionsrecht?
Yannis Häussel, WUW 2025, 138
WUW1470648
Kommentierung | GWB
§ 19 Verbotenes Verhalten von marktbeherrschenden Unternehmen
Weyer in Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder/Seeliger, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Mit Kommentierung des EU-Kartellrechts, des GWB und einer Darstellung ausländischer Kartellrechtsordnungen
98. Aufl./Lfg. 12.2020
Kommentierung | GWB
§ 20 Verbotenes Verhalten von Unternehmen mit relativer oder überlegener Marktmacht
Grave in Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder/Seeliger, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Mit Kommentierung des EU-Kartellrechts, des GWB und einer Darstellung ausländischer Kartellrechtsordnungen
90. Aufl./Lfg. 04.2018
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