24.08.2023

Anfechtbarkeit von gegen körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmungen verstoßenden Beschlüssen einer Aktiengesellschaft

Beschlüsse einer Aktiengesellschaft, die gegen körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmungen verstoßen und bei denen die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften nicht eingehalten werden, sind jedenfalls anfechtbar. Ist die Anfechtungsklage zulässig erhoben, bedarf es im Hinblick auf dasselbe mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage verfolgte materielle Ziel, nämlich die richterliche Klärung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses und somit seine Beseitigung mit Wirkung für und gegenüber jedermann, keiner Festlegung, ob der Satzungsverstoß zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit führt.

BGH v. 11.7.2023 - II ZR 98/21
Der Sachverhalt:
Die Kläger sind Aktionäre der Beklagten, einer nicht börsennotierten Aktiengesellschaft. § 21 Abs. 1 der Satzung der Beklagten lautete in der am 20.12.2019 gültigen Fassung:

"Der Vorstand hat in den ersten drei Monaten des Geschäftsjahres für das vergangene Geschäftsjahr den Jahresabschluss (Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung sowie Anhang) und den Lagebericht aufzustellen und dem Abschlussprüfer vorzulegen. Unverzüglich nach Eingang des Prüfungsberichts des Abschlussprüfers hat der Vorstand den Jahresabschluss, den Lagebericht des Vorstandes und den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers dem Aufsichtsrat mit einem Vorschlag über die Verwendung des Bilanzgewinnes vorzulegen."

In 2019 wurden die Jahresabschlüsse und Lageberichte für die Jahre 2017 und 2018 auf Antrag des Vorstands der Beklagten aufgrund gerichtlicher Bestellung eines Abschlussprüfers nachträglich geprüft, wodurch sich für 2017 eine Erhöhung des Jahresfehlbetrags von rd. 21.000 € auf rd. 38.000 € ergab. Für die Jahre vor 2017 fand eine Abschlussprüfung nicht statt. Auf der Hauptversammlung vom 20.12.2019 wurde neben einer Änderung von § 21 der Satzung der Beklagten, mit der die Prüfung von Jahresabschluss und Lagebericht zukünftig in das Ermessen des Vorstands gestellt wurde, zu TOP 9 mit 482.778 Ja- zu 10.506 Nein-Stimmen Folgendes beschlossen:

"Soweit nach § 21 der Satzung in ihrer derzeitig gültigen Fassung eine Prüfung von Jahresabschlüssen sowie Lageberichten verpflichtend vorgeschrieben ist, wird auf eine Prüfung der Jahresabschlüsse sowie der Lageberichte für bereits abgeschlossene Geschäftsjahre verzichtet, soweit keine gesetzliche Prüfpflicht besteht."

Die Kläger stimmten dagegen und erklärten Widerspruch gegen den Beschluss zur Niederschrift des notariellen Protokolls.

Das LG erklärte auf die gegen drei weitere Beschlüsse gerichtete Klage auf Nichtigerklärung, hilfsweise Feststellung der Nichtigkeit und äußerst hilfsweise Feststellung der Unwirksamkeit nur den Beschluss zu TOP 5 betreffend die Änderung der Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder für nichtig. Das OLG wies die zuletzt auf den Angriff gegen die Beschlussfassung zu TOP 9 beschränkte Berufung der Kläger zurück. Auf die Revision der Kläger hob der BGH den Beschluss des OLG auf und änderte das Urteil des LG unter Aufrechterhaltung im Übrigen teilweise ab und erklärte den in der ordentlichen Hauptversammlung der Beklagten vom 20.12.2019 unter Tagesordnungspunkt 9 gefassten Beschluss betreffend den Verzicht auf eine Prüfung der Jahresabschlüsse für die zurückliegenden Geschäftsjahre für nichtig.

Die Gründe:
Der Beschluss zu TOP 9 ist jedenfalls infolge der Anfechtung durch die Kläger für nichtig zu erklären, weil er gegen § 21 Abs. 1 Satz 1 der Satzung der Beklagten in der im Zeitpunkt des Beschlusses gültigen Fassung (§ 21 a.F.) verstößt (§ 243 Abs. 1 AktG). Die von den Klägern erhobene Anfechtungsklage ist zulässig und begründet.

Der Beschluss zu TOP 9 verstößt gegen § 21 Abs. 1 Satz 1 a.F. der Satzung der Beklagten. Danach hat der Vorstand in den ersten drei Monaten des Geschäftsjahres Jahresabschluss sowie Lagebericht aufzustellen und dem Abschlussprüfer vorzulegen. Mit dem angegriffenen Beschluss zu TOP 9 wird im Widerspruch dazu auf eine Abschlussprüfung für die Geschäftsjahre vor 2017 verzichtet. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verstößt der Hauptversammlungsbeschluss damit inhaltlich gegen die Satzung und erschöpft sich nicht darin zu entscheiden, wie nachträglich mit dem Jahre zurückliegenden Verstoß gegen § 21 a.F. der Satzung durch die Verwaltung umgegangen werden sollte.

An der Satzungsverletzung ändert sich nichts dadurch, dass der Vorstand der Beklagten eine satzungswidrige Praxis etabliert hatte, indem er Jahresabschluss und Lagebericht entgegen § 21 Abs. 1 Satz 1 a.F. der Satzung nicht dem Abschlussprüfer vorgelegt hat. Denn das satzungswidrige Verhalten des Vorstands bleibt ohne Auswirkung auf die Verbindlichkeit oder den Inhalt der geltenden Satzung. Die Satzung kann nicht faktisch geändert werden. Die zeitgleich auf der Hauptversammlung vom 20.12.2019 beschlossene Änderung von § 21 der Satzung der Beklagten kann bereits deshalb keinen Einfluss auf die vorliegende Beschlussprüfung haben, weil diese sich ausdrücklich nur auf zukünftige Geschäftsjahre bezog.

Der Verzicht auf die Abschlussprüfungen für die Jahre vor 2017 ist nicht unter dem Gesichtspunkt einer - durch den mit satzungsändernder Mehrheit gefassten Beschluss zu TOP 9 legitimierten - sog. punktuellen Satzungsdurchbrechung wirksam. Eine einen Einzelfall regelnde Satzungsdurchbrechung ist nach der Rechtsprechung des BGH im Grundsatz auch ohne Einhaltung der formellen Voraussetzungen einer Satzungsänderung möglich, wenn sie sich auf eine punktuelle Regelung beschränkt, bei der sich die Wirkung des Beschlusses in der betreffenden Maßnahme erschöpft. Punktuelle Satzungsdurchbrechungen bleiben aber anfechtbar. Zustandsbegründende Satzungsdurchbrechungen, bei denen die Abweichung von der Satzung Dauerwirkung entfaltet, sind hingegen nichtig, wenn die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften nicht eingehalten werden.

Sowohl das Bedürfnis, neben der Satzungsänderung (§§ 179 ff. AktG) und der Satzungsverletzung (§ 243 Abs. 1 AktG) die Rechtsfigur der Satzungsdurchbrechung zu erhalten, als auch die Unterscheidung zwischen punktuell und zustandsbegründend werden insbesondere für das Aktienrecht in Frage gestellt. Einer näheren Auseinandersetzung damit bedarf es vorliegend angesichts der zulässig erhobenen Anfechtungsklage nicht. Denn für die Aktiengesellschaft wird nach ganz herrschender Auffassung jedenfalls die Anfechtbarkeit, wenn nicht bereits die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit eines wie hier gegen eine körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmung verstoßenden und nicht in das Handelsregister eingetragenen Hauptversammlungsbeschlusses angenommen. Ist die Anfechtungsklage zulässig erhoben, bedarf es im Hinblick auf dasselbe mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage verfolgte materielle Ziel, nämlich die richterliche Klärung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses und somit seine Beseitigung mit Wirkung für und gegenüber jedermann, keiner Festlegung, ob der Satzungsverstoß zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit führt.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | AktG
§ 241 Nichtigkeitsgründe
Schwab in K. Schmidt/Lutter, Aktiengesetz, 4. Aufl. 2020

Kommentierung | AktG
§ 243 Anfechtungsgründe
Schwab in K. Schmidt/Lutter, Aktiengesetz, 4. Aufl. 2020

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