14.10.2022

Derivate: OLG wartet Kapitalanleger-Musterverfahren gegen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ab

Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen ab. Der streitgegenständliche Erwerb einer Anleihe auf die Aktie der W. AG ist vom Schutzzweck des § 826 BGB umfasst. Auch im Rahmen dieser Vorschrift gilt, dass die Ersatzpflicht auf solche Schäden beschränkt ist, die in den Schutzbereich des verletzten Ge- oder Verbots fallen. Ein qualifiziert nachlässiges unrichtiges Testat eines Wirtschaftsprüfers ist auch im Verhältnis zu Derivateanlegern als sittenwidrig einzustufen.

OLG München v. 23.9.2022, 13 U 3614/22
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nahm die Beklagte wegen des Kaufs einer auf die Aktie der W. AG bezogenen Anleihe in Anspruch. Sie behauptete, am 28.1.2020 Aktienanleihen "LB.H.-T. GZ ... WDI" (ISIN: ...Q3) zum Preis von 15.000 € erworben und diese am 22.1.2021 zum Preis von 87,15 € wieder verkauft zu haben. Hieraus errechne sich ein Schaden i.H.v. 14.912,85 €.

Die Beklagte hatte als Abschlussprüferin die Jahresabschlüsse der W. AG für die Geschäftsjahre 2015 bis 2018 uneingeschränkt testiert. Ihr oblag auch die Prüfung der Konzernabschlüsse. Am 27.4.2020 wurde die für den 29.4.2020 geplante Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 verschoben. Am 28.4.2020 wurde der KPMG-Sonderbericht veröffentlicht. Mit Ad-hoc-Mitteilung vom 18.6.2020 gab die W. AG bekannt, dass die Beklagte sie informiert habe, dass für Bankguthaben auf Treuhandkonten i.H.v. 1,9 Mrd. € noch keine ausreichenden Prüfnachweise vorhanden waren und die Abschlussprüfung daher nicht, wie geplant, bis 18.6.2020 abgeschlossen werden konnte. Die W. AG teilte am 22.6.2020 ad-hoc mit, dass die genannten Bankguthaben auf Treuhandkonten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen würden, und am 25.6.2020, dass sie entschieden habe, Insolvenzantrag zu stellen. Die Beklagte versagte den Bestätigungsvermerk für den Jahresabschluss 2019. In der Zeit nach dem 18.6.2020 fiel der Kurs der W.-Aktie stark.

Die Klägerin warf der Beklagten u.a. aufgrund der Auswertung des KPMG-Sonderprüfungsberichts vom 27.4.2020 sowie des Sachstandsberichts des Insolvenzverwalters der W. AG vom 19.5.2021 vor, schuldhaft die Konzernabschlüsse der W. AG für die Jahre 2016 bis 2018 testiert zu haben, obwohl das Unternehmen seinen Cash-Bestand jeweils um mehr als 1 Mrd. € überhöht ausgewiesen habe. Der Klägerin zufolge hätte die Beklagte unabhängig davon in den Bestätigungsvermerken auch darauf hinweisen müssen, dass die von der W.AG gewählte Bilanzierungsart für 1 Mrd. € (angebliche) Zahlungsmitteläquivalente nicht zulässig sei. Die Beklagte habe derart nachlässig geprüft, dass sie den Anlegern u.a. aus § 826 BGB hafte; sie habe insbesondere bewusst eine einfache Prüfungshandlung, nämlich die Einholung von Saldenbestätigungen für zwei Treuhandkonten bei zwei Kreditinstituten, nicht durchgeführt, sondern sich mit Bestätigungen des Treuhänders begnügt. Den Eintritt eines Vermögensschadens bei den Anlegern habe die Beklagte zumindest billigend in Kauf genommen.

Das LG erließ am 14.3.2022 im Verfahren 3 OH 2767/22 KapMuG einen Vorlagebeschluss gem. § 6 Abs. 1 KapMuG. Das Verfahren wurde dem BayObLG vorgelegt (Az. 101 Kap 1/22). Das OLG beabsichtigt, das vorliegende Verfahren im Hinblick auf den vorgenannten Vorlagebeschluss gem. § 8 Abs. 1 S. 1 KapMuG auszusetzen.

Die Gründe:
Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen ab.

Der streitgegenständliche Erwerb einer Anleihe auf die Aktie der W. AG ist vom Schutzzweck des § 826 BGB umfasst. Auch im Rahmen dieser Vorschrift gilt, dass die Ersatzpflicht auf solche Schäden beschränkt ist, die in den Schutzbereich des verletzten Ge- oder Verbots fallen. Auf eine derartige Eingrenzung der Haftung kann, um das Haftungsrisiko in angemessenen und zumutbaren Grenzen zu halten, auch im Rahmen des § 826 BGB nicht verzichtet werden. Ein Verhalten kann hinsichtlich der Herbeiführung bestimmter Schäden, insbesondere auch hinsichtlich der Schädigung bestimmter Personen, als sittlich anstößig zu werten sein, während ihm diese Qualifikation hinsichtlich anderer, wenn auch ebenfalls adäquat verursachter Schadensfolgen nicht zukommt. Die Ersatzpflicht beschränkt sich in einem solchen Fall auf diejenigen Schäden, die dem in sittlich anstößiger Weise geschaffenen Gefahrenbereich entstammen.

Ein qualifiziert nachlässiges unrichtiges Testat eines Wirtschaftsprüfers ist auch im Verhältnis zu Derivateanlegern als sittenwidrig einzustufen; der streitgegenständliche Erwerb einer Aktienanleihe durch die Klagepartei ist nicht nur reflexartig von der behaupteten schädigenden Handlung erfasst. Der Handel mit sog. Derivaten macht einen nicht unerheblichen, vom Gesetzgeber anerkannten Teil des Kapitalmarktes aus. Der Gesetzgeber hat das Geschäft mit derartigen Finanzinstrumenten reguliert und diese zum Beispiel in § 2 Abs. 3 WpHG und § 1 Abs. 11 KWG legal definiert. Auch wenn eine Investition auf dem sehr vielgestaltigen Derivatemarkt spekulativen Charakter hat, handelt es sich um ein erlaubtes, in bestimmten Situationen wirtschaftlich sinnvolles Instrument. Es gibt keinen Grund, den Erwerber eines derartigen Derivates von vornherein als weniger schutzbedürftig oder -würdig anzusehen als den unmittelbaren - im Übrigen möglicherweise auch spekulativ tätigen - Aktienerwerber.

Beide benötigen zur Beurteilung der Erfolgsaussichten ihres Investments Informationen über das Zielunternehmen. Eine wichtige Informationsquelle stellen die von einem Wirtschaftsprüfer bestätigten Jahresabschlüsse des betreffenden Unternehmens dar. Mit der Erteilung eines vorsätzlich sittenwidrigen Bestätigungsvermerkes verletzt der Abschlussprüfer daher auch ihm der Allgemeinheit gegenüber obliegende Pflichten. Damit hat auch der Derivaterwerber ein berechtigtes Interesse daran, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens vermittelt, was der Wirtschaftsprüfer durch seinen Bestätigungsvermerk testiert.

Die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens gilt - entgegen OLG München, Beschl. v. 16.11.2021 - 8 W 1541/21 - für Derivateanleger in gleichem Umfang wie für Erwerber von Aktien. Sie setzt voraus, dass es nur eine bestimmte Möglichkeit "aufklärungsrichtigen" Verhaltens gibt und ist daher nicht begründet, wenn eine gehörige Aufklärung beim Vertragspartner einen Entscheidungskonflikt ausgelöst hätte, weil es vernünftigerweise nicht nur eine, sondern mehrere Möglichkeiten aufklärungsrichtigen Verhaltens gab. Dies hat der BGH in einem Fall fehlender Aufklärung über den spekulativen Charakter des Erwerbs von Aktien des "Neuen Marktes" verneint, da diese Anlagen zwar mit hohen Risiken behaftet waren, aber auch entsprechende Gewinnchancen boten (BGH, Urt. V. 13.7.2004 - XI ZR 178/03). Vorliegend hätte es bei Kenntnis der von der Klagepartei behaupteten Umstände, dass erhebliche in den Bilanzen ausgewiesene Summen - zuletzt 1,9 Mrd. € - fehlen und der Vorstand an der unzutreffenden Darstellung beteiligt ist, um die seit Jahren ausschließlich eingefahrene Verluste zu verschleiern, keinen Entscheidungskonflikt gegeben. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Klägerin vor ihrer Investitionsentscheidung die Bestätigungsvermerke der Beklagten tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, denn eine "individuelle" Kausalität ist nicht erforderlich.

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Aufsatz
Amadeus Bach / Jannes Drechsler / Julian Funck
Die Einordnung von verbrieften derivativen Geschäften unter den steuerlichen Termingeschäftsbegriff am Beispiel von Optionsscheinen
StuW 2022, 212


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