15.04.2021

Haftung der Tochtergesellschaft für einen Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft

Nach Ansicht von Generalanwalt Pitruzzella kann ein nationales Gericht eine Tochtergesellschaft dazu verurteilen, die Schäden zu ersetzen, die durch das wettbewerbswidrige Verhalten der Muttergesellschaft, die alleinige Adressatin der von der Kommission verhängten Geldbuße ist, entstanden sind. Dafür müssten die beiden Gesellschaften auf dem Markt wie ein einziges Unternehmen aufgetreten sein, und die Tochtergesellschaft müsse dazu beigetragen haben, das Ziel dieses Verhaltens zu verwirklichen und dessen Wirkungen zu erreichen.

EuGH, C-882/19: Schlussanträge des Generalanwalts vom 15.4.2021
Der Sachverhalt:
Mit einem Beschluss aus dem Jahr 2016 verhängte die Kommission Geldbußen gegen verschiedene Gesellschaften des Automobilsektors, u.a. die Daimler AG, wegen Absprachen über die Preise von Lastwagen. In der Folge dieses Beschlusses beantragte die spanische Gesellschaft Sumal SL bei den spanischen Gerichten, die Mercedes Benz Trucks España SL (MBTE) zu verurteilen, ihr rd. 22.000 € als Schadensersatz zu zahlen. Auf diesen Betrag belaufe sich nämlich der Preisaufschlag, der von ihr an MBTE für den Erwerb mehrerer vom Daimler-Konzern hergestellter Lastwagen im Vergleich zu dem geringeren Marktpreis, der gegolten hätte, wenn die genannten Absprachen nicht bestanden hätten, gezahlt worden sei.

In diesem Kontext möchte das Provinzgericht Barcelona, bei dem der Rechtsstreit im Berufungsverfahren anhängig ist, vom EuGH wissen, ob eine Tochtergesellschaft (MTBE) für eine von ihrer Muttergesellschaft (Daimler) begangene Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Union haftbar gemacht werden kann, und unter welchen Voraussetzungen eine solche Haftung anerkannt werden kann.

Die Gründe:
In seinen heutigen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Giovanni Pitruzzella dem EuGH vor, auf die Theorie der wirtschaftlichen Einheit - die bisher vom EuGH herangezogen wurde, um die Muttergesellschaft für das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaften zu sanktionieren (aufsteigende Haftung) - zurückzugreifen, um die (mögliche) Haftung der Tochtergesellschaft für die Schäden festzustellen, die durch das wettbewerbswidrige Verhalten der Muttergesellschaft entstanden sind (absteigende Haftung).

Die Rechtsprechung hat sich für die Zurechnung der aufsteigenden Haftung an die Muttergesellschaft auf zwei verschiedene Faktoren gestützt: erstens den bestimmenden Einfluss, den die Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft, die lediglich die Weisungen von oben befolge, ausübt, und zweitens das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft, die sich jenseits des formalen Schleiers der unterschiedlichen Rechtspersönlichkeit auf dem Markt einheitlich verhalten. Die Heranziehung des bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft als Grundlage für die aufsteigende Haftung erlaubt an sich nicht, eine absteigende Haftung zu begründen, da die Tochtergesellschaft definitionsgemäß keinerlei bestimmenden Einfluss auf die Muttergesellschaft ausübt. Stütze man sich hingegen auf das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit, sei es möglich, auf dieser Grundlage auch die absteigende Haftung der Tochtergesellschaft zu begründen.

Die Grundlage für die Haftung der Muttergesellschaft für das wettbewerbswidrige Verhalten der Tochtergesellschaft liegt in der Einheitlichkeit des wirtschaftlichen Handelns dieser Gesellschaften, d. h. im Vorliegen einer einzigen wirtschaftlichen Einheit. Der bestimmende Einfluss ist jedenfalls eine notwendige Voraussetzung für das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit (d.h. eines einzigen Unternehmens im funktionalen Sinne). In diesem Sinne sind das Kriterium des bestimmenden Einflusses und das der wirtschaftlichen Einheit zwei logisch erforderliche Schritte beim Vorgang der Zuweisung der Haftung für ein wettbewerbswidriges Verhalten. Die Haftung für einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln wird vor allem dem Unternehmen, aufgefasst als wirtschaftliche Einheit, die schuldhaft die Zuwiderhandlung begangen habe, zugerechnet. Diese Haftung wird dann konkret den einzelnen Gesellschaften, aus denen das Unternehmen besteht, zugeordnet. Nur diese müssen nämlich die finanziellen Konsequenzen der Haftung (Geldbußen, Schadensersatzpflichten) tragen, denn nur die Gesellschaften sind juristische Personen, während das Unternehmen im funktionalen Sinne (d.h. die wirtschaftliche Einheit) keine juristische Person ist.

Falls die Muttergesellschaft die Zuwiderhandlung begeht, ergibt sich die absteigende Haftung der Tochtergesellschaft - neben dem von der Muttergesellschaft ausgeübten bestimmenden Einfluss - daraus, dass die Tätigkeit der Tochtergesellschaft gewissermaßen für die Verwirklichung des wettbewerbswidrigen Verhaltens erforderlich ist (z.B. weil die Tochtergesellschaft die kartellbefangenen Güter verkauft). Damit eine absteigende Haftung bestehen kann, muss die Tochtergesellschaft daher in demselben Bereich tätig sein, in dem die Muttergesellschaft das wettbewerbswidrige Verhalten an den Tag gelegt hat, und durch ihr Marktverhalten die Konkretisierung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung ermöglicht haben.

Die dieselbe wirtschaftliche Einheit bildenden Gesellschaften haften gesamtschuldnerisch: Daher kann jede der Gesellschaften für die vollständige Zahlung der Geldbuße (wenn es sich um ein öffentlich-rechtliches Sanktionsverfahren auf Initiative der Kommission handelt) oder des Schadensersatzes (wenn es sich um eine von einer Privatperson erhobene Schadensersatzklage handelt) in Anspruch genommen werden. Was diesen letztgenannten Aspekt betrifft, würden dadurch, dass der geschädigten privaten Partei die Möglichkeit eingeräumt wird, die im eigenen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft zu verklagen, praktische Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Zustellung der Klage im Ausland und der Vollstreckung eines etwaigen Urteils vermieden. Dem Geschädigten die Wahl der Gesellschaft zu überlassen, gegen die er vorgeht, erhöht außerdem seine Chancen auf volle Erfüllung seiner Schadensersatzansprüche.
EuGH PM Nr. 63 vom 15.4.2021
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