03.05.2022

Unternehmensinsolvenz und Arbeitnehmerrechte: Schutz der Arbeitnehmer bei Betriebsübergang

Werden in einem Pre-pack-Verfahren Aktiva übertragen, ist der Erwerber nicht verpflichtet, die Ansprüche und Rechte der Arbeitnehmer zu wahren. Das betreffende Verfahren muss aber durch Gesetzes- oder Verwaltungsvorschriften geregelt sein.

EuGH v. 28.4.2022 - C-237/20
Der Sachverhalt:
Der Heiploeg-Konzern (Heiploeg-alt) bestand aus mehreren Gesellschaften, die im Fisch- und Meeresfrüchtegroßhandel tätig waren. In den Jahren 2011 und 2012 häufte Heiploeg-alt erhebliche Verluste an. 2013 wurde dann gegen vier Konzerngesellschaften wegen Beteiligung an einem Kartell eine Geldbuße i.H.v. 27 Mio. € verhängt. Da keine Bank bereit war, die Geldbuße zu finanzieren, wurde ein Pre-pack-Verfahren eingeleitet.

Beim pre-pack handelt es sich um eine Praxis des niederländischem Rechts, die auf die Rechtsprechung zurückgeht. Mit ihr soll ermöglicht werden, dass im Insolvenzverfahren ein Unternehmen, dessen Tätigkeit fortgeführt wird (going concern), aufgelöst wird und so die Gläubiger so gut wie möglich befriedigt werden und die Arbeitsplätze so weit wie möglich erhalten bleiben. Die Veräußerungen von Unternehmen oder Unternehmensteilen, die in einem solchen Verfahren organisiert werden, werden durch einen "designierten Insolvenzverwalter" vorbereitet, dessen Aufgaben durch das zuständige Gericht, das ihn bestellt, und durch die Weisungen, die ihm dieses Gericht und der "designierte Insolvenzrichter" erteilen, bestimmt werden. Der designierte Insolvenzrichter wird zu diesem Zweck vom zuständigen Gericht bestellt. Der designierte Insolvenzverwalter steht unter seiner Aufsicht. Wird in der Folge ein Insolvenzverfahren eröffnet, überprüft das zuständige Gericht, ob sich diese Personen in vollem Umfang an die ihnen erteilten Weisungen gehalten haben. Ist dies nicht der Fall, bestellt es zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens andere Personen zum Insolvenzverwalter und zum Insolvenzrichter.

Im vorliegenden Fall bestellte das zuständige Gericht im Januar 2014 auf Antrag von Heiploeg-alt zwei designierte Insolvenzverwalter und einen designierten Insolvenzrichter. Als im selben Monat über das Vermögen von Heiploeg-alt das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, wurden dieselben Personen zu Insolvenzverwaltern bzw. zum Insolvenzrichter bestellt. Auf der Grundlage einer Vereinbarung über die Veräußerung von Aktiva wurde der Großteil der Geschäftstätigkeiten von Heiploeg-alt von zwei niederländischen Gesellschaften (Heiploeg-neu) übernommen, die am 21.1.2014 ins Handelsregister eingetragen wurden. Nach dieser Vereinbarung übernahm Heiploeg-neu die Arbeitsverträge von etwa zwei Dritteln der Beschäftigten von Heiploeg-alt. Sie sollten dieselben Tätigkeiten ausüben, allerdings zu schlechteren Arbeitsbedingungen.

Der niederländische Gewerkschaftsbund (FNV) legte gegen das Urteil, mit dem das Insolvenzverfahren über Heiploeg-alt eröffnet wurde, Berufung ein. Die Berufung wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Insolvenz von Heiploeg-alt unausweichlich gewesen sei und deshalb im vorliegenden Fall eine Ausnahme von der Wahrung der Ansprüche und Rechte der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen greife. Heiploeg-neu sei daher nicht an die Arbeit- und Beschäftigungsbedingungen gebunden, die vor dem Übergang gegolten hätten. Nach der Richtlinie 2001/23, deren Ziel es ist, die Arbeitnehmer insbesondere dadurch zu schützen, dass die Wahrung ihrer Ansprüche und Rechte bei einem Unternehmensübergang gewährleistet wird, müssen für die genannte Ausnahme drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss gegen den Veräußerer ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren eröffnet worden sein. Zweitens muss dieses Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet worden sein. Drittens muss das Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (oder eines von einer solchen Stelle ermächtigten Insolvenzverwalters) stehen.

Die FNV legte gegen das Berufungsurteil beim Obersten Gerichtshof der Niederlande Kassationsbeschwerde ein. Sie macht geltend, dass die genannte Ausnahme bei einem Pre-pack-Verfahren nicht greife, so dass die Arbeitsbedingungen der übernommenen Beschäftigten beibehalten werden müssten. Der Oberste Gerichtshof hat dem EuGH nun Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Die Gründe:
Bei einem Übergang, der wie hier in einem Pre-Pack-Verfahren vorbereitet wurde, ist der Erwerber grundsätzlich nicht verpflichtet, die Ansprüche und Rechte der Arbeitnehmer zu wahren. Das betreffende Verfahren muss allerdings durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelt sein.

Die Insolvenz des Veräußerers war im vorliegenden Fall unausweichlich und sowohl das Insolvenzverfahren als auch das diesem vorausgegangene Pre-pack-Verfahren wurden mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers durchgeführt. Der Übergang des Unternehmens ist in diesem Insolvenzverfahren erfolgt.

Die Ausnahme von der Wahrung der Ansprüche und Rechte der Arbeitnehmer dient dazu, die ernsthafte Gefahr einer Verschlechterung des Werts des veräußerten Unternehmens oder der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte auszuschließen. Hingegen ist Ziel eines Pre-pack-Verfahrens, das einem Insolvenzverfahren vorausgeht, dass die Gläubigergemeinschaft so gut wie möglich befriedigt wird und die Arbeitsplätze soweit wie möglich erhalten bleiben. Mit dem Rückgriff auf ein mit dem Ziel der Auflösung einer Gesellschaft durchgeführtes Pre-pack-Verfahren sollen die Chancen für eine Befriedigung der Gläubiger erhöht werden. Insgesamt betrachtet werden das Pre-pack-Verfahren und das Insolvenzverfahren also i.S.v. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 mit dem Ziel der Auflösung des Unternehmens durchgeführt. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss das Pre-pack-Verfahren aber durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelt sein.

Das Pre-pack-Verfahren, um das es im Ausgangsverfahren geht, wurde gem. Art. 5 der Richtlinie 2001/23 unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle durchgeführt. Der designierte Insolvenzverwalter und der designierte Insolvenzrichter werden von dem für das Pre-pack-Verfahren zuständigen Gericht bestellt, das deren Aufgaben bestimmt, und, wenn in der Folge das Insolvenzverfahren eröffnet wird, überprüft, wie sie diese ausgeübt haben. Das Gericht entscheidet, ob es im Insolvenzverfahren zum Insolvenzverwalter und Insolvenzrichter dieselben Personen bestellt oder nicht.

Im Übrigen wird der im Pre-pack-Verfahren vorbereitete Übergang erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollzogen. Der Insolvenzverwalter und der Insolvenzrichter können es ablehnen, die Veräußerung durchzuführen, wenn sie zu der Einschätzung gelangen, dass sie nicht im Interesse der Gläubiger des Veräußerers ist. Außerdem muss der designierte Insolvenzverwalter nicht nur im Insolvenzbericht über seine Verwaltung der vorbereiteten Phase Rechenschaft ablegen. Er haftet auch unter denselben Voraussetzungen wie der Insolvenzverwalter.

Mehr zum Thema:
  • Kurzbeitrag: BGH: Schenkungsanfechtung in der Insolvenz des das Arbeitsentgelt gewährenden Dritten (ZIP 2022, R5)
  • Rechtsprechung: EuGH vom 24.03.2022, C-723/20 - Zur internationalen Zuständigkeit für Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens bei Verlegung der Hauptverwaltung der Schuldnergesellschaft nach Antragstellung ("Galapagos BidCo.") (ZIP 2022, 698)
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EuGH PM Nr. 69 vom 28.4.2022
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